Es dürfte nicht verfehlt sein, in Angela Merkel einen neuen Politikertyp zu sehen, der sich grundsätzlich von den vorigen, den Brandts, Schmidts, Kohls und Genschers unterscheidet. Diesen Politikertyp könnte man Politiker ohne Geschichte nennen – oder einfacher den postdemokratischen Politikertyp. Sein Einschätzungs- und Erkenntnishorizont endet an der Wölbung der Blase, in der er vollständig lebt, geradezu interniert ist, einer Blase aus Politik, Finanzindustrie, Klimakomplex, Medien und Kultur, deren Bewohner die Zugbrücken zum Volk, das sie beherrschen und belehren und von dem sie leben, hochgezogen haben, weil sie sich für die Elite, im Grunde im spätfeudalen Sinne für eine absolut herrschende Aristokratie halten. Wie für die Aristokratie des Ancien Regime Christentum und Glauben nur noch Leerformeln waren, die man ständig zur Selbstrechtfertigung benutzte, so sind es für die postdemokratischen Politiker die zur Phrase verflüchtigten Begriffe Demokratie und Freiheit. Die US-amerikanische Marxistin Nancy Fraser definierte die Herrschaft dieser spätwestlichen Eliten mit Blick auf die USA so: »Die US-amerikanische Form des progressiven Neoliberalismus beruht auf dem Bündnis ›neuer sozialer Bewegungen‹ (Feminismus, Antirassismus, LGBTQ) mit Vertretern hoch technisierter, ›symbolischer‹ und dienstleistungsbasierter Wirtschaftssektoren (Wall Street, Silicon Valley, Medien- und Kulturindustrie etc.).« Aus ihrer Sicht führte die neoliberale Politik Clintons und Obamas »zu einer Verschlechterung der Lebensverhältnisse aller Arbeitnehmer, besonders aber der Beschäftigten in der industriellen Produktion.« Zur gesellschaftsauflösenden Ausweitung der Minderheitenrechte stellte sie fest, dass dieses neue Establishment die Emanzipation gleichsetzt »mit dem gesellschaftlichen Aufstieg der ›Begabten‹ unter den Frauen, Minderheiten und Homosexuellen« und dass es »die The-winner-takes-it-all-Hierarchie nicht mehr abschaffen« will.1 Diese Blase bewirkt nicht die Erweiterung des Wissens und der Erkenntnisse, sondern die Verstärkung eigener Urteile, vor allem Vorurteile. Der Wirklichkeitsverlust wird durch Propaganda, Delegitimierung, Marginalisierung und Repression ersetzt. Unter dem Deckmantel, die Demokratie verteidigen zu wollen, wird die Demokratie eingeschränkt, weil für die Eliten Demokratie nicht Herrschaft des Volkes, sondern absolute Herrschaft der Eliten, also Oligarchie, bedeutet. Die »wehrhafte Demokratie« ist in Wahrheit nur die verwehrte Demokratie. Was das konkret bedeutet, wird am Beispiel Angela Merkels einsichtig, die sich im Laufe ihrer Karriere im Allgemeinen, aber im Besonderen in der Ära ihrer Kanzlerschaften zur postdemokratischen Politikerin entwickelte und damit dem Zeitgeist Rechnung trug. Man darf nicht vergessen, dass mit dem Historikerstreit Mitte der Achtzigerjahre linke, linksliberale und immer stärker postmodernistische Intellektuelle, Journalisten und Künstler die Meinungshoheit und die Diskursherrschaft in der Öffentlichkeit errungen hatten. Der postdemokratische Politikertyp gehört nicht den produktiven, sondern den destruktiven Zeiten an; es ist der Politikertyp, der, weil er aus dem Vollen schöpfen kann, das Volle ausschöpft.
Einmal mehr, aber an unvermuteter Stelle in geradezu gespenstischer Atmosphäre wurde für alle, die es sehen wollten, Deutschlands Spaltung deutlich: am 2. Dezember 2021 im Scheinwerferlicht des Großen Zapfenstreichs im Bendlerblock, als die deutsche Bundeskanzlerin Dr. Angela Dorothea Merkel verabschiedet wurde. Zwar empfanden beim Großen Zapfenstreich für die scheidende Bundeskanzlerin die Deutschen noch gemeinsam eine große Freude, doch die einen, weil Angela Merkel zum Abschied geehrt, und die anderen, weil Angela Merkel endlich verabschiedet wurde, darüber, dass nun diese Kanzlerschaft – für manche zwölf Jahre zu spät – endete, die jene deutsche Konsensdemokratie zur Oligarchie der Alternativlosigkeit umformte.
Die Bundeskanzlerin aus der CDU hatte die erstaunliche Leistung vollbracht, die beste Politikerin zu werden, die die Grünen jemals besaßen. Mit diesem Verdienst wird sie in die Geschichte eingehen, dass sie die einzige Bundeskanzlerin für die Grünen war. Wie es dazu kam, was das mit Deutschland macht, vor allem aber weshalb das in Deutschland möglich war, erzählen die folgenden Seiten. Weil Angela Merkel die Legende über sich verbreiten ließ, dass sie die Dinge vom Ende her bedenkt – womit sie sich zielsicher mit Gott verwechselte, denn nur der kennt im Voraus das Ende und kann es folglich von dort aus bedenken –, soll auch die Geschichte der Angela Merkel vom Ende her berichtet we