EINS
Paris
Juni 1939
MAURICE
Maurice Mouret stand am offenen Fenster, beugte sich ein wenig vor und sah hinunter auf die belebte Place de l’Opera. Würde er sie sehen, wenn sie den Platz überquerte, vielleicht seinen Blick spürte und hochsah? Doch er konnte sie unter den vielen Menschen nicht entdecken, obwohl sie dieses hellgrüne Kleid trug. Vielleicht, so überlegte er, traf sie im gegenüberliegenden Café de la Paix jemanden, mit dem sie den Vertrag feiern wollte, den sie gerade unterschrieben hatte. Ihr Roman war angenommen worden und würde ab dem 1. September in wöchentlichen Fortsetzungen in derBon-weekend erscheinen, eine der Zeitungen, die Maurice Mouret als Verleger herausgab. SeineBonne-journée war eine der meistgelesenen Tageszeitungen, stark politisch und kulturell ausgerichtet, währendBon-weekend sich mehr an die weibliche Leserschaft richtete. Mode, Kochrezepte, Werbung für Kosmetik und Haarprodukte. Nur Positives, das war das Credo der männlichen Redakteure. Keine Politik, das langweile die Frauen, und auch keine Berichte über den Spanischen Bürgerkrieg oder über die Angst vor dem Nationalsozialismus in Deutschland. Die Ehefrau, Hausfrau und Mutter, das war die relevante Zielgruppe, und die Auflagen gaben den Redakteuren recht. Aber wie die letzten Umfragen zeigten, fanden auch berufstätige Frauen Gefallen an den Romanen, und so hatte sich die Zielgruppe erweitert, und die Auflagen waren gestiegen. Das hatte ihm Frank Dubois, Chefredakteur derBon-weekend, erklärt. Der Fortsetzungsroman in der Wochenendzeitung war das Herzstück des Blattes. Maurice gab dem Chefredakteur vonBon-weekend absolute Handlungsfreiheit, nur die Verträge gingen über seinen Schreibtisch. Wie auch heute, als die neue Autorin Violetta Cassini zu ihm kam, um ihren Vertrag zu unterschreiben.
Frank Dubois war begeistert gewesen. »Sie ist neu, frisch, unverbraucht.«
»Wie jung ist sie denn?« Maurice war neugierig geworden.
»Nicht mehr ganz jung«, hatte Dubois ein wenig unsicher erwidert, »ich schätze, so um die vierzig.«
»Was hat sie bis jetzt gemacht, war sie berufstätig?«
Dubois zuckte mit den Schultern. »Sie war verheiratet, lässt sich scheiden, hat offenbar keine Kinder. Als sie uns das Manuskript aus Rennes eingeschickt hat, lautete die Adressehauptpostlagernd. Und ich habe ja auch nur mit ihr telefoniert. Du musst wissen, Maurice, ich war heilfroh, als mir das Manuskript auf den Tisch flatterte. Du weißt, Berenice Montez hat nach fünf Romanen eine Schreibblockade und hat kurzfristig abgesagt. Ein Glück, dass Violetta Cassini genau da ihr Manuskript eingeschickt hat. Und es ist gut, glaub mir.«
»Ist der Name Violetta Cassini ein Pseudonym, was glaubst du?«
»Ich vermute, ja. Auch Berenice Montez ist eines. Vielleicht nur künstlerische Eitelkeit, vielleicht auch, weil Autoren sich durch einen klangvollen Namen neu definieren, sich selbst in ein neues, ein anderes Leben versetzen wollen. Wer weiß das schon so genau? Künstler sind nun mal besondere Menschen. Also, Maurice, sag mir Bescheid, wie du sie findest.«
Damit war Frank gegangen, und Maurice hatte auf die neue Autorin gewartet, die pünktlich bei ihm angemeldet wurde.
Er gab zu, neugierig auf sie gewesen zu sein. Eine Frau, die einen so klangvollen Namen angegeben hatte und mit fast vierzig Jahren anfing, Romane zu schreiben. Doch als sie dann vor einer Stunde vor ihm gesessen hatte, war er enttäuscht gewesen. Aber was hatte er erwartet? Eine kapriziöse Diva, die sich mit diesem klangvollen Namen neu erschuf?
»Lesen Sie den Vertrag gut durch«, hatte er ihr vorgeschlagen, »bevor Sie ihn unterschreiben.«
»Aber ich kenne ihn doch bereits.« Verwundert hatte sie ihn angesehen. »Frank Dubois hat ihn mir zugeschickt, er ist in Ordnung.«
Während sie unterschrieb, beobachtete er sie. Sie hatte schöne blonde Haare, doch achtlos hochgesteckt, mit ein paar Kämmen, die nur lose das Haar zurückhielten. Das Gesicht war blass, blaue Ringe unter den Augen – von schlaflosen Nächten? Sie trug keinen Ehering mehr, und ihr grünes Kleid war zerknittert.