: Angelika Waldis
: Aufräumen
: Atlantis Literatur
: 9783715275550
: 1
: CHF 13.40
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 192
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Hauptsächl ch waren es Männer, die Luisa die ersten siebzig Jahre ihres Lebens schwer gemacht haben: ihr Ehemann Alfred natürlich, ein »Künstler« (was eigentlich nur bedeutet,dass er nicht einmal zum Geldverdienen gut ist), Roman, ihr Schwiegersohn mit der »leidenschaftlichen Natur« (was das in Bezug auf andere Frauen bedeutet,kann man sich ja denken), und Dr. Hausammann, der damals bei der Operation ihrer Tochter gepfuscht hat. Als sie ihrer Nachbarin beim Kistenpacken für den Umzug ins Altersheim hilft, gelangt Luisa zu dem Schluss, dass es auch in ihrem Leben an der Zeit ist, endlich mal so richtig reinezumachen, aufzuräumen, Ballast loszuwerden. Und deshalb sitzt sie jetzt im Zug nach Genua, mit neuer Frisur und im Gepäck: Alfreds liebste Currypaste mit einer ganz besonderen Beigabe.

Angelika Waldis, 1940 in Luzern geboren, hat einige Semester Anglistik und Germanistik an der Universität Zürich studiert. Der Titel ihrer ersten und letzten Seminararbeit: »Poetic diction in the eighteenth century«. Weil sie lieber über das Hier und Jetzt schreiben wollte, schlug sie eine journalistische Laufbahn ein. Zusammen mit ihrem Ehemann Otmar Bucher gründete sie die mehrfach ausgezeichnete Jugendzeitschrift Spick. Waldis schrieb für die Jugend und, wenn sie noch Zeit hatte, für die Schublade. Mit sechzig hörte sie mit der Zeitschrift auf - und schrieb endlich ihr erstes Buch. Ihre Romane und Kurzgeschichten für Erwachsene wurden mehrfach ausgezeichnet; Ich komme mit war 2019 das Lieblingsbuch des Deutschschweizer Buchhandels und erhielt im selben Jahr den ZKB Schillerpreis. Angelika Waldis hat einen Sohn, eine Tochter und drei Enkelkinder. Sie lebt in der Nähe von Zürich.

1Ja nicht auffallen


Luisa hat beschlossen aufzuräumen. Als Erstes mussAlfred weg.

Seit beinah vierzig Jahren ist sie mit Alfred verheiratet. Alfred ist ein Egosaurier. Er hat vor allem an sich gedacht und tut es immer noch. Die Tatsache, dass Luisa und zwei Töchter an seiner Seite lebten, war für ihn etwa so maßgebend wie der Terminkalender der Müllabfuhr. »Ich bin halt ein Künstler«, sagte er. »Er ist halt ein Künstler«, sagte Luisa. Sie sagte es jahrelang – und wusste, dass er keiner war.

 

Sie sitzt im Zug nach Wien und blättert im Reiseführer. Der ist schon längst nicht mehr aktuell, aber das macht nichts. Noch nie ist sie in Wien gewesen. »Jetzt bin ich siebzig und noch nie in Wien gewesen«, hat sie zur Coiffeuse gesagt. »Jetzt will ich mir das mal leisten, ohne Grund. Machen Sie mich schön, los.« »Sind Sie sicher, Frau Gallmann?«, fragte die Coiffeuse. »Zwei Zentimeter kurz?« »Sicher, schneiden Sie.« Und die Coiffeuse schnitt, schnitt die seit Jahrzehnten ewig gleichen Lockenbüschel ab.

Und jetzt sieht Luisa im spiegelnden Zugfenster ihren neuen Kopf. Jünger schaut sie aus mit dem grauen Kurzhaar. Fast wie ein Mann schaut sie aus. Hinter ihrem Kopf fliegen Felder und Wälder durch den Sommerabend, leuchten ein paar Pinselstriche Abendrot, schön.

Bereits nach kurzer Fahrt kommt der Schaffner. Er registriert ihr elektronisches Ticket. Einmal Wien und zurück. »Schönen Abend noch, Madam.« Sorgfältig steckt sie das Ticket wieder ein, es wird der Beweis sein, dass sie nach Wien gefahren ist.

 

Das klappt ja besser als erhofft, denkt Luisa. Bereits in Sargans kann sie aus- und umsteigen und nach Zürich zurückfahren, rechtzeitig für den frühen Nachtzug nach Mailand. Von Buchs, Feldkirch oder Innsbruck aus wär’s komplizierter gewesen. Sie hat die Fahrpläne genau studiert. Aber eigentlich hat sie keine Eile. Sie ist für volle zehn Tage abgemeldet. Sie hat genügend Zeit, ganze Arbeit zu leisten.

Das Schwierigste an der Arbeit wird sein, nicht aufzufallen. Niemand soll sich an sie erinnern, auch der Herr nicht, der ihr gegenübersitzt. Er sieht nicht unsympathisch aus, der alte Knacker, er liest imSteppenwolf, Luisa hat es gleich gesehen, sie hat eine gute Rundumsicht, wie ein Hase, sieht auch ein bisschen wie ein Hase aus mit den weit auseinanderliegenden Augen. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte sie mit dem alten Knacker vielleicht ein Gespräch angefangen. Aber jetzt will sie nicht auf sich aufmerksam machen, will still und unscheinbar in ihrer Verkleidung verharren: graue Regenjacke, extra fades lavendelblaues Shirt, graue Altfrauenhose, scheußliches senfgelbes Foulard mit Hufeisenmuster. So stellt sie sich eine Nonne auf Urlaub vor. Ihre schönen Sachen hat sie im Koffer. Knallblau, Eierschale, Seidenglanz. Den Tropenvogelhut. Die Eidechsenschuhe.

 

Alfred, Arschfred. Ein Glück, dass sie ihre Ausbildung schon abgeschlossen hatte, als sie Alfred kennenlernte. So war sie in der Lage, über alle die Jahre für den Unterhalt der Familie aufzukommen, Luisa Gallmann, geborene Racher, Hauswirtschaftslehrerin, Dozentin an der Pflegefachschule. Sie vergisst sie nicht, diese Müdigkeit, aus der sie sich täglich herausstrampeln musste. Die Todesmüdigkeit.

 

In Sargans wird sie auf dem Bahnsteig von einem jungen Hündchen stürmisch begrüßt, es wedelt mit allen Körperteilen. Am anderen Ende der Leine zieht ein junger Mann, auch an ihm scheint alles zu schlenkern. Dass man so jung sein kann, denkt Luisa beinahe verwundert und krault dem Hündchen die Ohren. Du sollst dich nicht an mich erinnern, hörst du, Hundekind. Ich will hier nicht gesehen werden. Ich fahre nach Mailand, und das weiß niemand. Ich werde in einem Hotel übernachten, in dem ich noch nie war. Ich werde morgen nach Genua weiterreisen, dort sitzt Alfred