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Seit ich zählen kann, zähle ich. Das hilft. Dreizehnist meine Zahl. So oft haut Mutter mich auf den Rücken. Wenn ich vor Angst Bisi mache, zähle ich auch. Bis dreizehn bleibt es warm, danach wird es kalt zwischen den Beinen. Wenn es dunkel ist, pocht es dreizehn Mal an meine Ohren. Das ist der Tod im Treppenhaus. Hinter der Holzwand, wo Mutter und Vater schlafen, quietscht es. Dreizehn Mal. Das ist, wenn Vater von der Nachtschicht kommt.
Bei uns auf dem Napf läuft alles verkehrt. Wer auf der Hinterseite des Berges lebt, ist Berner Protestant. Wer vorne lebt, ist Katholik und gehört zum Kanton Luzern. Beides unter demselben Dach verträgt sich schwer. Solange Mutter Protestantin ist, hat sie noch die Fröhlichkeit. Vater ist Katholik, er hat das Schweigen. Das mit meinem schwarzen Herz ahnt kein Mensch, alle bewundern mich, sie sagen zu mir: »So ein lieber Vater. So eine schöne Mutter. Du wirst mal eine wie sie.«
Meine Mutter ist für mich die Größte. Sie dürfte mich immer hauen. Alles gäbe ich für sie, wenn sie mich nur lieb hat. Eines Tages wird sie mich lieben, da bin ich mir ganz sicher, weil niemand sie so liebt wie ich.
In meinem Zelt aus Stoffresten von Mutters Heimarbeit zähle ich auch, mit den Fadenspulen aus Holz von Vaters Versuchen: »Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun.« So viele Jahre bin ich alt. Jede Spule schreibe ich an, mit einer blauen Zahl. Ich stelle sie auf, in einer Reihe, zähle auch die andern, stelle sie in die zweite Reihe dahinter: »Zehn, elf, zwölf, dreizehn.« Niemand soll erfahren, was ich plane. Nach dem Zählen haue ich die Spulen um. Sie fallen hin, wie die Reihe im Dominospiel.
Angefangen hat alles mit einer Lüge.
In der Schule steht eine Kartonschachtel auf dem Schrank. Sie ist bunter als die mit Vaters Spulen auf der Küchenbank. Aber Vaters Kartonschachtel kommt erst am Mittag, jetzt ist Morgen. Ich muss schreiben lernen.OMO ist mein erstes Wort. So steht es oben auf dem Schrank.
Kopfrechnen ist mir lieber. Da bin ich hellwach, blitzschnell, nicht zu schlagen. Das kann ich, weil ich jeden Tag Vaters Spulen zähle. Sogar Fräulein Sidler staunt. Bis zum ersten Tag im neuen Schuljahr, als Vreneli sagt, ich sei eine Lügnerin. Wir rutschen alle eine Reihe nach, Vreneli und ich sind jetzt in der mittleren Reihe, zuvorderst kommen neue Erstklässler, und zuhinterst sitzen die Großen von der Sechsten.
Ein Kind nach dem andern steht auf, wir müssen den Beruf vom Vater sagen. Fräulein Sidler schreibt alles in ihr Buch. Die meisten sagen: »Mein Vater ist Bauer.« Viertelabnüüni sagt: »Schnapser.« Sein Vater fährt mit Töff und Schnapsmaschine rund um den Napf. Auf seinem Nummernschild wackelt dasLU915. Niemand weiß, ob er Protestant vom Kanton Bern oder Katholik vom Kanton Luzern ist. Er brennt vorn und hinten am Napf die Äpfel und Birnen. Fast alle Väter haben einen zweiten Beruf, weil es bei uns so stotzig ist und schwer, als Bauer genügend Geld zu verdienen.
Viele Väter köhlern als Nebenverdienst, Vrenelis Vater ist so einer. Sie hat immer Ruß im Gesicht und an den Beinen. Wenn sie sich bewegt, steigt Duft aus ihren Kleidern wie bei einer Wurst aus dem Räucherkamin. Mein Vater war früher Metzger. Jetzt ist er Fabrikant von Beruf. Eigentlich ist er Erfinder. Ich entscheide mich für die Berufsarbeit und stehe auf: »Mein Vater ist Fabrikant.« Vreneli redet mir ins Wort und steht nochmals auf, obwohl ich dran bin, nicht sie. »Lilly lügt, Fabrikarbeiter ist ihr Vater.« Fräulein Sidler glaubt natürlich mir. Sie lächelt und schreibt