Warum?
Wie jede Freundschaft verlangt auch diejenige mit sich selbst, aufmerksam mit dem Freund umzugehen. Sich ihm zuwenden, ihm zuhören, ihn ausreden lassen, teilnehmen an seinen Anliegen, bei Verständnisschwierigkeiten nachfragen – das ist Freundschaftskunst. Ich will versuchen, sie im Schreiben zu üben.
Aber wie kann das gehen – mir selbst gegenübertreten und mich erkunden? Zwei Subjekte sein, von denen eins das andere zum Objekt macht? Ich bin doch ein und derselbe, kann mich nicht teilen, keine Distanz zu mir einnehmen. Einspruch, sage ich mir. Das machst du doch andauernd. Du denkst über dich nach, du beobachtest, wie du dich verhältst, du steuerst dein Verhalten. Du bist Steuermann und Schiff zugleich. Du steuerst dein Schiff durch die hohe See des Lebens.
Sobald ich mich erinnere und je weiter das Erinnerte zurückliegt, desto fremder erscheine ich mir selbst. So war ich tatsächlich mal? So habe ich ausgesehen? Solche Briefe habe ich geschrieben? Solches verquaste Zeug im Tagebuch notiert? So bin ich mit anderen umgegangen? So bin ich von anderen wahrgenommen worden? Manchmal schüttle ich den Kopf über denjenigen, der mir als früheres Ich entgegentritt. Manchmal bewundere ich ihn.
„Ich ist ein anderer“, wusste Arthur Rimbaud. Auch heute bin ich wohl ein anderer als der, der ich meine zu sein. Zudem bin ich vielleicht für verschiedene Menschen jeweils ein anderer. Viele Iche tummeln sich auf dem Spielfeld mit dem Namen „Ich“. Sie realisieren verschiedene Möglichkeiten eines imaginären Ichs, das idealtypisch und unsichtbar in der Mitte steht. Sie haben sich um dieses Phantom im Zentrum herum gebildet und treiben ihre Spiele mit ihm.
Überwachsene Wege breiten sich vor mir aus: Lebenswege. Der Wildwuchs lockt. Ich will die Landschaft erkunden, Entdeckungen machen, Einsichten gewinnen, mir selbst auf die Schliche kommen, mich einlassen auf die diversen Ichs, die ich im Lauf der vielen Jahre meiner bisherigen Lebenszeit war und bin. Meine Lebenswege hängen zusammen mit denen vieler Menschen und sind eingebunden in fortwährend sich verändernde gesellschaftliche Verhältnisse. All das wartet auf Erkundung. Ich wünsche mir, dass meine Spurensuche den Spürsinn von Lesern anregt.
An vielen Stellen sind die überwachsenen Wege nicht mehr sichtbar. Ich muss mir neue bahnen. Unmöglich, zurückliegendes Leben noch einmal so abzuschreiten, wie es gewesen ist. Die Freilegung des Überwachsenen fördert etwas anderes zutage als die Realität von damals. Die Spurensuche führt zu einem Konstrukt, das aus heutigen Sichtweisen, Mutmaßungen, neugewonnenen Freiheiten und ebenso aus Blockaden hervorgegangen ist.
An Erinnerungen knüpfen sich Gefühle und Gedanken. Erinnerungen werden angereichert oder ausgedünnt, umgemodelt, interpretiert, beleuchtet durch das spätere Leben. Erinnerung formt aus dem Verborgenen Auftauchendes so, dass das Bewusstsein etwas damit anfangen und Gewinn daraus ziehen kann. Erinnern ist eine Lebenskunst. Sie ermöglicht, das Leben deutlicher wahrzunehmen, Zusammenhänge zu erkennen, seinen Reichtum zu ermessen, zu spüren, aus wie vielen komplexen Geschehnissen, Strebungen und Einflüssen das eigene jetzige Ich resultiert. Erinnerung hilft, Dankbarkeit zu empfinden.
Jedes Lebensdetail lässt sich mikroskopisch erkunden. Welche Auswahl aus der unendlichen Menge an Erinnerbarem treffe ich? Ich weiß es nicht vorab. Einzelne