Alice
Alice beschloss, eine Pause vom Packen zu machen. Sie zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich in einem der Korbsessel zurück, die von der Meeresluft immer ein wenig feucht waren. Dann blickte sie sich im Zimmer um und sah die vielen Kartons, in denen sie die Familienhabseligkeiten verstaut hatte. Gläser, Salzstreuer und Bilderrahmen – alles sorgfältig verpackt. In jedem Zimmer standen ein paar Kisten, die noch vor der Ankunft der Kinder zum Goodwill-Sozialladen mussten. Sie hatten die Sommer von sechs Jahrzehnten hier verbracht, und Alice staunte, wie viel sich über die Jahre hinweg angesammelt hatte. Mit diesem Durcheinander wollte sie niemanden belasten, wenn sie einmal nicht mehr war.
Am Himmel hingen dicke Wolken. Bald würde es regnen. In Cape Neddick in Maine gewitterte es in diesem Mai fast jeden Nachmittag. Ihr war das egal. Sie ging sowieso nicht mehr zum Strand hinunter. Nach dem Mittagessen setzte sie sich normalerweise mit einem Glas Rotwein auf die Veranda, las stundenlang Romane, die ihr ihre Schwiegertochter Ann Marie im Winter geliehen hatte, und sah die Wellen gegen die Felsen schlagen, bis es Zeit war, das Abendessen vorzubereiten. Sie hatte nicht mehr das Bedürfnis, sich einen Badeanzug anzuziehen, ins Wasser zu springen und im Sand ihre Pediküre zu ruinieren. Stattdessen zog sie es vor, die Szenerie aus der Ferne zu beobachten und wie einen Geist durch sich hindurchziehen zu lassen.
Ihr Alltag in Cape Neddick folgte einer bestimmten Routine. Spätestens um sechs Uhr stand sie auf, um die anstehenden Haus- und Gartenarbeiten zu verrichten. Dann machte sie sich einen Tee und legte den Beutel auf ein Schälchen im Kühlschrank, um sich damit vor dem Mittagessen eine zweite Tasse zu brühen. Um Punkt neun Uhr dreißig stieg sie in den Wagen und fuhr zur Zehn-Uhr-Messe in St. Michael.
Die Gegend hatte sich in den vielen Jahren seit ihrem ersten Sommer in Maine sehr verändert. An der Küste waren riesige Häuser aus dem Boden geschossen, und in den Ortschaften gab es an jeder Ecke elegante Restaurants, Souvenir- und Feinkostläden. Die Fischer waren noch da, aber in den siebziger Jahren hatten sich viele auf den Tourismus umgestellt und boten jetzt Walbeobachtung, Vergnügungsfahrten mit Frühstücksbuffet und dergleichen an.
Aber manches war beim Alten geblieben. In Rubys Gemischtwarenladen und in der Apotheke gingen noch immer um sechs Uhr die Lichter aus. Alice ließ nach wie vor den Autoschlüssel stecken, und auch das Haus schloss sie nicht ab – das tat hier niemand. Der Strand war noch unberührt, und die großen, den Weg zur Kirche säumenden Kiefern sahen aus, als stünden sie dort seit Jahrhunderten.
Auch die Kirche war eine Konstante. St. Michael war eine altmodische steinerne Dorfkapelle mit rotsamtenen Kniebänken und B