: Bernardine Evaristo
: Blondes Herz Roman
: Tropen
: 9783608123845
: 1
: CHF 17.90
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 288
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein scharfsinniger Roman über die Geschichte unserer Gegenwart und die Kraft unserer Träume - von der Autorin des Bestsellers Mädchen, Frau etc. Was wäre, wenn der afrikanische Kontinent die Welt erobert hätte und Sklavenhandel mit Europäern betreiben würde? Booker-Preisträgerin und Bestsellerautorin Bernardine Evaristo denkt die Vergangenheit neu: Doris, ein weißes Mädchen aus England, wird nach Aphrika verschleppt und dort als Sklavin verkauft. Doch sie verliert nicht ihren Mut. Sie muss alles riskieren, um die Fesseln ihrer Gefangenschaft abzulegen und ein freies Leben zu führen. Eben noch spielt Doris mit ihren Schwestern Verstecken auf den Feldern hinter ihrem Cottage. Im nächsten Moment wird ihr ein Sack über den Kopf gezogen und sie findet sich im Laderaum eines Sklavenschiffs wieder, das in die Neue Welt segelt. Dort muss sie einem ambossanischen Feudalherrn dienen, der von ihrer Minderwertigkeit überzeugt ist. Doch Doris kann nicht aufhören, von ihrer Flucht zu träumen. In den folgenden Jahren setzt sie alles daran, ein freier Mensch zu werden. Als ihre Fluchtversuche scheitern, wird sie zur Strafe auf die Zuckerrohrfelder geschickt. In den Plantagen, an der Seite der starken Wikingerin Ye Mémé, entdeckt Doris jedoch eine ungekannte Stärke in sich. Unerwartet findet sie zurück zu ihrem blonden Herz. Und am Ende sogar zu ihrem ungebrochenen Freiheitswillen. »Ein phänomenales Buch. Zweifellos ein feministischer Klassiker.« WOMEN'S PRIZE FOR FICTION   »So menschlich und authentisch. Eine humorvolle und intelligente Neuinterpretation von Vergangenheit und Gegenwart.« GUARDIAN

Bernardine Evaristo, geboren 1959, wuchs als viertes von acht Kindern in London auf. Sie ist Professorin für Kreatives Schreiben an der Brunel University London und Präsidentin der Royal Society of Literature. Sie gewann als erste Schwarze Autorin den Booker-Preis für ihren Bestsellerroman Mädchen, Frau etc. (2021). Außerdem bei Tropen erschienen: Manifesto. Warum ich niemals aufgebe (2022), Mr. Loverman (2023) und Zuleika (2024). 

Großer Gott, führ mich heim


Da muss ich also wieder einmal Bürodienst versehen und die Geschäftsbücher durchgehen, während der Boss, mein Bwana, mit der ganzen Familie ausgegangen ist, um auf irgendeiner schicken Party in der Nachbarschaft die Rum-Cola-Gläser klirren zu lassen und den Schwabbelhintern zu schwenken. Früher hoffte ich immer, der Heilige Voodoo-Abend wäre der eine Tag im Jahr, an dem wir Versklavte auch freibekommen würden – aber weit gefehlt, es läuft alles wie gehabt.

Draußen vor dem Fenster sind die Palmen zu beiden Seiten der breiten Straße mit Girlanden in Gold und Silber geschmückt. Es sind hohe, schlanke Bäume mit der hochnäsigen Haltung jener, die von klein auf die kostbare Kokosmilch auf dem Kopf balancieren, und an ihren glänzend grünen Wedeln baumeln flackernde Öllichter in rot bemalten Kalebassen.

Die Reste des gestrigen Sandsturms wurden sorgfältig vom Kopfsteinpflaster gefegt, die Händler mit ihren Imbissangeboten bis auf Weiteres fortgejagt.

Frösche und Grillen sorgen für einen berauschenden nächtlichen Chor, zu dessen Klängen ein Kamelwagen nach dem anderen stinkreiche Partygäste vor den benachbarten Compounds absetzt. Die Männer tragen alle farbenprächtige Kaftane, und ihre glamourösen, beleibten Frauen tun ihr Bestes, einander mit pfauenfederbedruckten Turbanen zu übertrumpfen, die sie zu den ausgefallensten femininen Schleifen gebunden haben.

Sämtliche Häuser wurden frisch geweißelt, auf den Buntglasscheiben sind Abbilder der Götter zu sehen: Oshan, Shangira, Yemonja. Vor den Veranden halten steinerne Sphingen Wacht, die Eingänge sind von Fackeln auf hohen Marmorsockeln gesäumt, deren Flammen wie schlüpfrig-bläuliche Finger nach der klebrigen Nachtluft fassen.

Aus den Obergeschossen dröhnen die fiebrigen Elektrobeats der Jugend, aus den unteren dringen die weichen Klänge der Marimba durch das Gelächter und Geplauder von Menschen, die allen Grund dazu haben, das Fest der Liebe auch zu feiern, denn sie alle leben als freie Männer und freie Frauen mitten in der Gegend mit den höchsten Immobilienpreisen der uns bekannten Welt: Mayfah.

Mein eben erwähnter Bwana ist Chief Kaga Konata Katamba I. Sein Vermögen hat er im Bereich Import-Export gemacht, im berüchtigten transatlantischen Sklavenhandel, und sich schließlich ganz dem Leben in der besseren Gesellschaft verschrieben, als dauerabwesender Zuckermagnat, Teilzeitgatte, Freizeitvater, anständiger Mensch außer Dienst und, nicht zu vergessen, völlig verheerte Seele.

Außerdem ist mein Boss Vollzeitgegner des Abolitionismus und verbreitet in seinem persönlichen SprachrohrDie Flamme – einer Flugschrift, die landauf, landab in Umlauf ist – kostenfreie Tiraden zugunsten der Sklaverei.

Trotz aller Abneigung blätterte ich gerade in der neuesten Ausgabe dieses Machwerks und spürte schon, wie sich mein Magen zusammenkrampfte und mir die Kehle eng wurde, da schob auf einmal eine Hand einen zusammengefalteten Brief durch das offene Bürofenster und war sofort wieder verschwunden, bevor ich erkennen konnte, zu wem sie gehörte.

Ich faltete den Brief auf, las die magischen Worte und meinte mit einem Mal, im eigenen Kopf zu ertrinken.

Wellen krachten und donnerten durch meinen Schädel.

Ich stieß den gewaltigsten aller stummen Schreie aus.

Dann verlor ich das Bewusstsein.

Wie lange, weiß ich selbst nicht, ein paar Minuten vielleicht, aber als ich wieder zu mir kam, saß ich noch immer auf meinem Stuhl, mein Kopf war nach vorn gesackt, und ich hielt den Brief in der Hand.

Durch einen wässrigen Schleier las ich ihn erneut.

Es stimmte, es war Wirklichkeit – ich sollte die Möglichkeit zur Flucht erhalten.

Großer Gott.

Nach so vielen Jahren auf der Warteliste hielt ich das in der Hand, was ich mir am sehnlichsten wünschte. Und trotzdem kam es plötzlich viel zu schnell. Ich saß da wie erstarrt. Meine Gedanken rasten vor tausend Wenns und Abers. Wenn ich versuchte, mein Leben seiner rechtmäßigen Besitzerin zurückzugeben – nämlich mir selbst –, musste ich es auch aufs Spiel setzen. Und wenn ich unvorsichtig war oder Pech hatte, endete ich womöglich am örtlichen Schandpfahl oder auf dem Henkersblock.

Dann meldete sich mein Überlebenswille.

Mein Kopf klarte auf.

Ich war wieder ganz da.

Zerriss den Brief in winzige Fetzen.

Stand auf und wandte mich der Holzmaske mit den Zügen des Bwana an der Wand zu.

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