: Paola Lopez
: Die Summe unserer Teile Roman
: Tropen
: 9783608123968
: 1
: CHF 17.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Drei Frauengenerationen in der Wissenschaft, eine kleine Weltreise durch das Jahrhundert - erschütternd und einfühlsam zugleich.« Alina Bronsky Die Großmutter flieht im Zweiten Weltkrieg aus Polen in den Libanon. Die Mutter verlässt den Libanon für ein Leben in Deutschland. Die Tochter muss für eine Zukunft zurück nach Polen. Über eine Zeitspanne von siebzig Jahren hinweg erzählt Paola Lopez die mitreißende Familiengeschichte dreier Frauen, die sich ein freies Leben erkämpfen und eine Verbindung zueinander suchen. Ein berührender Roman über das Erbe unserer Mütter, das wir alle mit uns tragen. Die Großmutter ist eine der ersten Chemikerinnen im Libanon. Die Mutter ist eine angesehene Medizinerin. Die Tochter ist Studentin der Informatik. Sie alle verbindet die Wissenschaft. Doch das Band zwischen den Generationen ist gerissen, Lucy spricht seit Jahren nicht mit ihrer Mutter. Bis plötzlich ein Klavier in ihre Wohnung geliefert wird. Der Steinway, auf dem Lucy als Kind spielen lernte. Sie hasst dieses Klavier. Es erinnert sie an alles, was sie hinter sich lassen wollte: den goldenen Käfig ihrer allzu behüteten Kindheit, die hohen Ansprüche ihrer Mutter und die fehlende Nähe. Als mit dem Klavier auch der polnische Geburtsname ihrer Großmutter auftaucht, setzt Lucy sich kurzentschlossen in den nächsten Zug nach Sopot, den einzigen Ort, den sie mit ihr verbindet. Sie muss die losen Fäden ihrer Familie zusammenführen, um ihre eigene Zukunft in die Hand zu nehmen. »Dieser Roman kratzt verkrustete Glaubenssätze über Mutterschaft auf und kommt einem persönlich sehr nah. Ich sehe jetzt klarer, wie ich selbst als Mutter - und als Tochter - sein will.« Mareike Fallwickl

Paola Lopez, geboren 1988 in Wien, ist Mathematikerin und promoviert interdisziplinär über Künstliche Intelligenz. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bremen und schreibt für den Merkur eine Kolumne zu KI. Für die Arbeit an ihrem Debütroman Die Summe unserer Teile wurde sie mit dem Theodor Körner Preis 2023 gefördert. Paola Lopez lebt in Berlin.

2

München, 1976


Daria nimmt ihre Schutzbrille ab und wischt sich den Schweiß vom Nasenrücken. Es ist ihr erster Sommer in München. Sie blickt zu Renate, die ihre Frisur richtet und dafür die Klinge des breiten Skalpells als Spiegel benutzt. Zwischen ihnen die große Rinderlunge. Als der Professor den Tischreihen den Rücken zukehrt, um die Tafel zu wischen, verdreht Daria die Augen.

»Es ist unerträglich«, flüstert sie.

»Solltest du so eine Hitze nicht gewohnt sein?«, fragt Renate erstaunt.

Daria drückt das Gefühl von Heimweh, das in ihrer Brust anschwillt, hinunter in den Bauch. In den meterlangen Dünndarm muss sie es hineinflechten. Bis es still ist und sich, umwickelt von Darias innerer Boa constrictor, nicht mehr regt.

Sie blickt aus dem Fenster. Die Sonne hinter den Lamellen der Außenjalousien sieht harmlos aus. Eine kleine weißlich gelbe Murmel. Der längliche Saal wird durch kaltes Leuchtröhrenlicht erhellt, das oft genug flackert, um in Daria einen leisen Kopfschmerz anzustoßen. Seit Renate und Harald miteinander ausgehen, hüllt sich Renate zudem täglich in eine Wolke von blumigem Parfum, das Daria fast schmecken kann, wenn sie nebeneinander an der Rinderlunge arbeiten.

Die Regale an der Seite des Saales sind voll mit Geräten, die veraltet aussehen, Schläuche aus getrübtem Kunststoff. Wie viele Generationen von Studenten haben hier schon geschwitzt? In ihren Schutzkitteln sehen Darias Studienkollegen von hinten aus wie Geister, kopflos und konzentriert. Als würden sie etwas Wichtiges tun und nicht in toten Organen herumstochern. Dieses Präparieren ist vollständig unproduktiv. Sie schreiben nicht etwa eine Hausarbeit oder lösen eine Aufgabe oder ein Problem. Sie erschaffen nichts. Sie führen keine Experimente durch, testen keine Hypothesen. Alles, was man durch dieses Durchtrennen von Gewebeteilen erfahren kann, ist der Medizin schon bekannt. Sie reparieren auch nichts, heilen niemanden. Sie nehmen Teile von Lebewesen auseinander, um ihr eigenes professionelles Wissen zu schärfen. Um zu sehen, wie es im Inneren so aussieht. Um zu üben, das Innere freizulegen, zu zergliedern. Wie oft sollen sie das noch machen?

Darias Magen knurrt hörbar. Sie zieht die lange Metallpinzette aus der Luftröhre und kramt nach einem schmalen Skalpell.

»Du hättest doch Nachschlag nehmen sollen«, sagt Renate. »Oder haben dir die Knödel nicht geschmeckt? Das ist okay, mir kannst du es sagen.«

Daria errötet. »Nein, nein, sie waren köstlich.«

Zu Mittag war sie bei Renate und ihren Eltern eingeladen. Renates Mutter hat Germknödel mit Vanillesoße gekocht, wunderbar flaumig, eines von Darias Lieblingsgerichten aus der bayerischen Küche.

»Gefällt es Ihnen denn hier?«, hat Renates Vater gefragt, während Renates Mutter die Knödel servierte.

»Ja, München ist wunderbar«, hat Daria geantwortet. Sobald sie sich bemüht, glücklich zu wirken, klingen ihre Worte hohl, ihre Stimmbänder werden nasse Stofffetzen.

Nachdem alle ihre zwei Knödel verspeist haben, hat Renates Mutter Daria Nachschlag angeboten. Daria hätte in den Knödeln baden können.

»Nein, vielen Dank, ich bin schon sehr satt«, sagte sie, um nicht gierig zu wirken. Sie war immerhin zu Gast. Zu ihrem Entsetzen hat Renates Mutter nicht weiter insistiert und keinen Versuch unternommen, ihr die Knödel aufzudrängen. Sie hat nicht etwa gesagt: »Machen Sie mir doch die Freude, und nehmen Sie noch einen Knödel, nur einen kleinen«, wie Libanesen es tun würden. Nach einem kurzen Moment der Irritation hat Renates Mutter die weiteren Knödel auf die drei Teller der Familienmitglieder aufgeteilt. Das Tor zu den traumhaften Knödeln wurde geschlossen, und Daria hat still und mit sehr geradem Rücken zugesehen, wie Renate, Renates Mutter und Renates Vater ihre zweite Portion verspeist haben. Hundert Knödel hätten das brennende Gefühl der Einsamkeit nicht stillen können.

Daria spannt ihre Bauchmuskeln an, damit ihr Magen aufhört zu rumoren. Im Grunde sind sie immer angespannt. Seit sie hier ist, hatte sie kaum Gelegenheiten, loszulassen. Im Englischen Garten kann sie manchmal durchatmen. Beim Monopteros mit der schönen Aussicht lockert die Boa constrictor ihren Griff. Stundenlang sitzt Daria auf dem Hügel. Die Hippies stören sie nicht, im Gegenteil. Zwischen den Künstlern und den Langhaarigen kann sie verschwinden. Sie kann ungestört alles beobachten, während die anderen um sie herum Haschisch rauchen. Renate war entsetzt, als Daria ihr