Einleitung
Die schwedische Insel Fårö erscheint unberührt, Spuren der letzten Jahrhunderte sind kaum zu erkennen. Die Trockenbauhütten für das Vieh sind nach mittelalterlichen Vorbildern errichtet und tragen steil aufragende Reetdächer. Etwa alle 50 Jahre wird ein solches Dach in einer Gemeinschaftsaktion der Inselbewohner ausgebessert, wobei das uralte Wissen über Reetdächer an die nächste Generation weitergegeben wird. Anschließend wird der Erfolg mit einem gewaltigen Trinkgelage gefeiert. Einige der kleinen Bauernhöfe sind auch heute noch mit löchrigen Linien gekreuzter Holzpfähle umzäunt, als wollten sie damit einen Kavallerieangriff abwehren. Vor der Küste ragen dieraukar auf, große, von den Wellen der Ostsee überspülte Kalksteinbrocken, die wie seltsame Nachbildungen von Hunden, Triumphbögen oder menschlichen Köpfen wirken.
Als der schwedische Regisseur Ingmar Bergman 1967 zum ersten Mal nach Fårö kam, stieß er auf einen »steinigen Strand, der sich bis in die Ewigkeit erstreckt«. Die Insel wurde zu seinem Zufluchtsort.[1] In diesen Jahren reiste auch der sozialdemokratische Ministerpräsident Schwedens Olof Palme regelmäßig hierher und mietete sich in der Nähe des Dörfchens Sudersand eine Hütte ohne Fernseher oder Telefonverbindung. Manchmal brachte er seine engsten Mitarbeiter oder befreundete Politiker aus der ganzen Welt mit nach Fårö, um weit entfernt von prüfenden Blicken in Stockholm heimlich Pläne zu schmieden. Meist nutzte er jedoch einfach die Zeit, um den Kopf freizubekommen.
Die winzige Insel mit ihren milden Wintern liegt näher am Mittelpunkt der Ostsee als jedes andere Fleckchen Land. Sie nimmt einen ganz speziellen Platz in der Nationalmythologie des modernen Schweden ein und steht für Abgelegenheit, Nostalgie, Sicherheit, Ruhe und eine ununterbrochene Verbindung zu der langen Geschichte des Landes.
Doch dieses Gefühl von Sicherheit und Zeitlosigkeit ist eine Illusion. Fårö und die benachbarte, größere Insel Gotland befinden sich in einer strategischen Position inmitten jener Schifffahrtslinien, die die wirtschaftliche und militärische Lebensader der Ostsee bilden. Dank moderner Waffentechnik sind sie von der westlichen Hälfte der baltischen Staaten leicht unter Beschuss zu nehmen, genau wie von Kaliningrad aus, der russischen Exklave, die bis oben hin mit Hyperschallwaffen, Kampfflugzeugen, Kriegsschiffen ausgestattet ist – und auch mit Atomsprengköpfen, wie einige benachbarte Regierungen vermuten.[2]
Fårö und Gotland sind in einen Krieg verstrickt, der sich von Kalifornien bis Kamtschatka rund um den Globus erstreckt, mit der Ostsee als geografischem und geopolitischem Mittelpunkt. Derzeit kämpfen die Ukraine und Russland diesen Krieg aus, doch der umfassendere Konflikt bestimmt das Leben und bedroht die Sicherheit und das Wohlergehen jedes Menschen im Westen, auch wenn viele von uns den Ernst der Lage noch nicht erkannt haben.
Dabei haben die ersten Donnerschläge eines physischen Kriegs den Ostseeraum bereits erreicht. Im September 2022 schaltete eine Reihe Unterwasserexplosionen östlich der dänischen Insel Bornholm die russischen Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 aus.[3] Eineinhalb Jahre später erklärte Kyjiw, seine Spezialkräfte hätten die »Serpuchow« in Brand gesteckt, eine Korvette der Buyan-M-Klasse der russischen Baltischen Flotte, und zwar möglicherweise an einem Ort, der rund 150 Kilometer südlich von Gotland liegt. Es dürfte der erste bekannt gewordene Angriff auf ein russisches militärisches Ziel in der Region seit 1945