: Thomas Wagner
: Abenteuer der Moderne Die großen Jahre der Soziologie 1949-1969
: Klett-Cotta
: 9783608122961
: 1
: CHF 19.90
:
: Philosophie: Allgemeines, Nachschlagewerke
: German
: 336
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Adorno, Gehlen und der lange Schatten des Nationalsozialismus »Ein dichtes Panorama der intellektuellen Szene im Nachkriegsdeutschland. Sehr zu empfehlen, sehr gelungen.« Wolfgang Schneider, Deutschlandfunk Kultur Freigeist trifft auf Demokratieverächter - Thomas Wagner enthüllt die so spannende wie eigenwillige Beziehung zwischen dem linken Philosophen Theodor W. Adorno und seinem rechten Widerpart Arnold Gehlen. Mit großer Erzählkunst nimmt er uns mit auf die aufregende Reise in eine sich mitten im Kalten Krieg rasant modernisierende Gesellschaft. Dabei gibt er überraschende und verstörende Einblicke in die Intellektuellengeschichte der jungen Bundesrepublik.  Frühjahr 1958: Theodor W. Adorno bezichtigt seinen Kollegen Arnold Gehlen mit einem vernichtenden Gutachten des faschistischen Denkens - und verhindert dessen Berufung nach Heidelberg. Wenige Jahre später schreiben sie sich Briefe, treffen sich privat und führen eine Reihe von Rundfunkgesprächen - wieso? Vor dem Hintergrund von Wiederbewaffnung und deutscher Teilung schildert Thomas Wagner die Geschichte dieser außergewöhnlichen Begegnung. Er zeigt, wie sich die Soziologie als neue Leitwissenschaft etabliert und welchen Anteil ehemalige Nationalsozialisten dabei haben. Sein Erzählbogen reicht von der Weimarer Republik über den Nationalsozialismus bis in die Hauptstadt der DDR. Mit illustren Figuren wie Arendt, Benn, Brecht, Augstein, Plessner und Harich entsteht ein plastisches Bild von der intellektuellen Gründung der Bundesrepublik. Die Wurzeln der aufgeheizten Debatten unserer Gegenwart erscheinen dadurch in einem überraschend neuen Licht.

 Thomas Wagner, geboren 1967 in Rheinberg, ist Kultursoziologe. Als freier Autor schrieb er unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt,der Freitag, Junge Welt und das ND. Zuletzt veröffentlichte er die Sachbücher »Der Dichter und der Neonazi« (2021) und »Fahnenflucht in die Freiheit« (2022). 

1. Prolog. Blick durch den Eisernen Vorhang


Vor dem Tonbandgerät


Berlin, Hauptstadt derDDR, irgendwann im Frühjahr oder in den ersten Sommermonaten des Jahres 1965. Zwei Männer sitzen vor einem Tonbandgerät. Der eine, Wolfgang Harich, ist ein an der Akademie der Wissenschaften beschäftigter Verlagslektor von Anfang vierzig Jahren. Der andere, Manfred Wekwerth, acht Jahre jünger, arbeitet als Chefregisseur am Berliner Ensemble, dem Theater, das von dem neun Jahre zuvor verstorbenen Dichter Bertolt Brecht am Schiffbauerdamm gegründet worden war. Harich befindet sich nach einer langen Haftstraße erst seit ein paar Monaten wieder auf freiem Fuß. Der überzeugte Kommunist hatte in den 50er Jahren als Kopf einer konspirativen Gruppe einen waghalsigen Plan zur Überwindung der deutschen Teilung entwickelt. Da die Regierung Ulbricht dem im Wege stand, wollte er sie stürzen. Er und seine Mitverschwörer flogen schon bald auf und Harich wurde zu einer langen Haftstrafe verurteilt, die ihn in die berüchtigte Vollzugsanstalt Bautzen brachte. Vier Jahre war es nun her, dass der Bau der Mauer den Riss zwischen Ost und West besiegelt hatte, doch am geistigen Leben, das auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs geführt wurde, war man in derDDR nach wie vor interessiert. Auch am nun von Brechts Witwe Helene Weigel geleiteten Theater am Schiffbauerdamm.

Die am 3. Februar 1965 vom Südwestfunk ausgestrahlte und am 21. März 1965 imNDR wiederholte Sendung zum Thema »Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen?« stieß hier jedenfalls auf so viel Interesse, dass Wekwerth sie aufzeichnen ließ. Der Grund dafür dürfte allerdings weniger das Thema als die namhaften Kontrahenten gewesen sein, die zum Streitgespräch in ein Rundfunkstudio geladen worden waren: Theodor W. Adorno, ein wortgewandter linker Intellektueller von Gewicht, traf auf Arnold Gehlen, einen der profiliertesten Köpfe des Rechtskonservatismus. Von der in dieser Konstellation liegenden Spannung war zunächst nicht viel zu spüren. Denn die Diskutanten waren sich, wie Gehlen an einer Stelle bemerkte, »in tiefen Prämissen einig«.[1] Der Mensch in der modernen Welt, darauf liefen ihre jeweiligen Zeitdiagnosen fast deckungsgleich hinaus, hatte Institutionen geschaffen, die ihm gegenüber eine Gewalt ausübten, auf deren Eigendynamik er kaum noch gestaltenden oder gar steuernden Einfluss auszuüben in der Lage war. In einer Hinsicht unterschieden sie sich allerdings deutlich. Während Adorno den Zustand dieser »verwalteten Welt« – die von dem Soziologen Max Weber ein halbes Jahrhundert zuvor als »Gehäuse der Hörigkeit« beschrieben worden war – bei aller offen zutage liegenden Ohnmacht der Akteure gleichwohl auf ihre Veränderbarkeit hin kritisch befragen wollte, hielt