Berlin, Hauptstadt derDDR, irgendwann im Frühjahr oder in den ersten Sommermonaten des Jahres 1965. Zwei Männer sitzen vor einem Tonbandgerät. Der eine, Wolfgang Harich, ist ein an der Akademie der Wissenschaften beschäftigter Verlagslektor von Anfang vierzig Jahren. Der andere, Manfred Wekwerth, acht Jahre jünger, arbeitet als Chefregisseur am Berliner Ensemble, dem Theater, das von dem neun Jahre zuvor verstorbenen Dichter Bertolt Brecht am Schiffbauerdamm gegründet worden war. Harich befindet sich nach einer langen Haftstraße erst seit ein paar Monaten wieder auf freiem Fuß. Der überzeugte Kommunist hatte in den 50er Jahren als Kopf einer konspirativen Gruppe einen waghalsigen Plan zur Überwindung der deutschen Teilung entwickelt. Da die Regierung Ulbricht dem im Wege stand, wollte er sie stürzen. Er und seine Mitverschwörer flogen schon bald auf und Harich wurde zu einer langen Haftstrafe verurteilt, die ihn in die berüchtigte Vollzugsanstalt Bautzen brachte. Vier Jahre war es nun her, dass der Bau der Mauer den Riss zwischen Ost und West besiegelt hatte, doch am geistigen Leben, das auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs geführt wurde, war man in derDDR nach wie vor interessiert. Auch am nun von Brechts Witwe Helene Weigel geleiteten Theater am Schiffbauerdamm.
Die am 3. Februar 1965 vom Südwestfunk ausgestrahlte und am 21. März 1965 imNDR wiederholte Sendung zum Thema »Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen?« stieß hier jedenfalls auf so viel Interesse, dass Wekwerth sie aufzeichnen ließ. Der Grund dafür dürfte allerdings weniger das Thema als die namhaften Kontrahenten gewesen sein, die zum Streitgespräch in ein Rundfunkstudio geladen worden waren: Theodor W. Adorno, ein wortgewandter linker Intellektueller von Gewicht, traf auf Arnold Gehlen, einen der profiliertesten Köpfe des Rechtskonservatismus. Von der in dieser Konstellation liegenden Spannung war zunächst nicht viel zu spüren. Denn die Diskutanten waren sich, wie Gehlen an einer Stelle bemerkte, »in tiefen Prämissen einig«.[1] Der Mensch in der modernen Welt, darauf liefen ihre jeweiligen Zeitdiagnosen fast deckungsgleich hinaus, hatte Institutionen geschaffen, die ihm gegenüber eine Gewalt ausübten, auf deren Eigendynamik er kaum noch gestaltenden oder gar steuernden Einfluss auszuüben in der Lage war. In einer Hinsicht unterschieden sie sich allerdings deutlich. Während Adorno den Zustand dieser »verwalteten Welt« – die von dem Soziologen Max Weber ein halbes Jahrhundert zuvor als »Gehäuse der Hörigkeit« beschrieben worden war – bei aller offen zutage liegenden Ohnmacht der Akteure gleichwohl auf ihre Veränderbarkeit hin kritisch befragen wollte, hielt