1. KAPITEL
„Und sie lebte glücklich bis an ihr Ende.“
Beschwingt erklomm Maren die Treppe zu dem herrlichen Palast, der jetzt ihr neues Zuhause war. Vor Freude war sie ganz aus dem Häuschen! Auf dem Weg durch ihre Wohnräume spähte sie kurz in jedes Zimmer. Perfekt! Alles war nach ihren Wünschen hergerichtet worden. Doch als sie die Tür zu ihrem Schlafzimmer aufstieß, fielen Maren sofort zwei Dinge ins Auge. Zum einen war das Bett sehr groß und sehr pink und sah genauso aus, wie sie es sich immer erträumt hatte. Ein Prinzessinnenbett für ein Prinzessinnenschloss.
Zum anderen lag auf dem Prinzessinnenbett ein Mann.
Er wirkte sehr groß, trug einen schwarzen Anzug und hatte sein schwarzes Haar auf umwerfende Art aus der Stirn gestrichen. Seine Augen waren schwarz und viel zu scharfsichtig. Maren wusste auf Anhieb, dass sie sich für immer an jede Einzelheit dieses Augenblicks erinnern würde. Der Unbekannte strahlte etwas Intensives aus, das in ihr widerhallte, obwohl sie es nicht benennen konnte. Sie erstarrte, als würde sie ein Raubtier erblicken. Eine leise Stimme wisperte ihr zu, dass sie wegrennen solle. Doch eine andere Stimme, ebenso überzeugend, riet ihr zu bleiben.
Reglos blieb sie stehen. Als sie heute Morgen mit dem Hubschrauber hergeflogen war, hatte sie alles Mögliche erwartet, aber so etwas nicht.
„Hallo, Prinzessin!“, sagte der Fremde mit seidiger Stimme, in der jedoch ganz eindeutig etwas Bedrohliches mitschwang.
„Hallo. Ähm … Hallo?“ Schlagartig wurde Maren bewusst, wie isoliert sie hier war, regelrecht abgeschnitten vom Rest der Welt. Es gab zwar Bedienstete im Palast wie die Haushälterin Iliana, und Maren wusste, dass man ihr zu Hilfe kommen würde, falls sie schrie. Trotzdem hörte sie in diesem Moment nichts als ihren Herzschlag. Rund um den Palast gab es kaum Land. Er befand sich auf einem zerklüfteten Felsen in der Ägäis und seine goldenen Türme glitzerten märchenhaft schön im Sonnenlicht. Es war das Prinzessinnenschloss ihrer Träume. Es glich sowohl dem Spielzeugschloss, das ihre Mutter ihr als Kind geschenkt hatte, als auch dem Ort in ihrem Kopf, in dem sie alle Erinnerungen aufbewahrte. Ihrem Gedächtnispalast.
Ihre Schwester Jessie, die ebenfalls ein fotografisches Gedächtnis besaß, hielt die Idee eines Gedächtnispalasts für überspannt. Maren war anderer Ansicht. Hatten ihre detailgetreuen Erinnerungsbilder nicht einen ganz besonderen Aufbewahrungsort verdient? Jessie legte ihre Erinnerungen in Aktenschränken ab. Maren fand das schade. Wenn man seine Erinnerungen an jedem erdenklichen Ort aufbewahren konnte – einem Einhornstall, einem Feenhaus, einem verzauberten Koffer, der den Weg in eine magische Welt eröffnete –, warum sollte man dann ein nüchternes Büro wählen?
Maren hatte schon immer von Schlössern geträumt. Stets hatte sie geglaubt, gehofft, geträumt, dass sie für mehr bestimmt war. Für etwas Besseres. Ihre Mutter, die genauso rotes Haar hatte wie sie, hatte sie als kleines Kind ihr Make-up probieren und mit ihren Haarspangen, Kämmen und Bürsten spielen lassen. Und sie hatte ihr vorgesungen. Ihr gesagt, dass sie eine Prinzessin sei, etwas Besonderes. Als ihre Mutter fortging, war all das verschwunden.
Maren hatte eine privilegierte Kindheit gehabt. In gewisser Weise. Sie hatten zumindest genug Geld gehabt. Jedenfalls ihr Vater, der ein Gangsterboss gewesen war. Sie und ihre Schwester hatten ein Dach über dem Kopf und genug zu essen gehabt. Um ihr seelisches Wohlbefinden hatte sich Marcus Hargreave aber nie gekümmert. Er war ein abscheulicher Mensch gewesen. Inzwischen war er tot. Gestorben bei einer Schießerei, als die Polizei ihn verhaften wollte. Und es gab wohl niemanden auf der Welt, der seinen Tod bedauerte …
Ihre Schwester Jessie war mittlerweile verheiratet und erwartete ein Baby. Ein Mädchen, Marens kleine Nichte. Der Gedanke, das Baby könnte durch Marcus