EIN PORTRÄT DER FAMILIE GLOTT, mit Vettern und Cousinen, aufgenommen im Einfamilienhaus von Moritz Glott Anfang der Dreißigerjahre. Ellen und ihre Zwillingsschwester Grete tragen identische Kleider mit weißem Kragen, sehen sich so ähnlich, dass man unmöglich sagen kann, wer von ihnen wer ist.
EINE ABITURIENTENMÜTZE AUS ROTEM STOFF, der Name Ellen mit weißer Farbe auf die dunkle Krempe geschrieben.
DIE HISTORISCHE WETTERVORHERSAGE FÜR MITTE SEPTEMBER 1942, handschriftlich notiert und fünfzig Jahre lang in den Archiven des Meteorologischen Instituts aufbewahrt, bevor sie digitalisiert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.
Die notierten Wetterdaten zeigen, dass der Himmel in jenen Tagen über Oslo seine Schleusen öffnete und die Straßen zu kleinen Flüssen, die Treppen zu kleinen Wasserfällen und die Wege unter den Brücken zu kleinen Seen verwandelte.
Jedes Mal, wenn der Himmel sich so öffnet, läuft meine Tochter ans Fenster, vollkommen aufgeregt, dann eilt sie hinaus in den Garten. Während wir anderen im Haus bleiben, amüsiert und verwundert, legt sich meine Tochter auf die Terrasse, streckt die Arme zur Seite aus und lässt die Regentropfen dunkle Flecken auf ihren Kleidern bilden.
Wo war Ellen in diesen Septembertagen, als der Sicherheitsdienst an ausgewählte Adressen fuhr, mit dem Befehl, die Eigenheime und die Geschäfte wohlhabender Juden zu beschlagnahmen?
An einer Stelle im Talmud, dem heiligen Buch der Juden, steht, dass wir die Welt nicht so sehen, wie sie ist, sondern so, wiewir sind. Unsere Vorstellungen und Erfahrungen, unsere Vorurteile und Erwartungen färben das, was wir sehen, und bestimmen, worauf wir Wert legen und was unserer Aufmerksamkeit entgeht. So läuft auch jeder Versuch, die weißen Flecken in dieser Erzählung auszufüllen, und jeder Versuch, eine Brücke heraufzubeschwören zwischen den Bruchstücken, von denen ich weiß, und jenen, die verschwiegen worden sind. Den Erinnerungen, die zu schmerzhaft gewesen sein mussten, um sie teilen zu können.
Ich stelle mir das Villenviertel vor, in dem Ellen lebte, mit weißen Lattenzäunen, hinter denen krumme Obstbäume in den Gärten wuchsen.
Dort kommt sie gerade von ihrer Klavierstunde nach Hause, den Kopf unter dem Regenschirm, ihre patschnassen Stiefeletten gurgeln und quietschen mit jedem Schritt.
Dreimal die Woche geht sie zu Rieflings Klavierinstitut, um ihre Technik zu verbessern und der Rückmeldung der Pädagogin zu lauschen. An den anderen Tagen übt sie zu Hause an ihrem Flügel. Achtet darauf, sich vor jeder Übung aufzuwärmen, lässt niemals die Tonleiterübungen schleifen, verpasst niemals das Dehnen der Unterarme und Finger im Anschluss, weil es bei ihrem Vorhaben, als Konzertpianistin zu leben, nicht nur darum geht, anspruchsvolle und emotionale Kompositionen vorzuführen, sondern auch die physischen Voraussetzungen zu erfüllen, die dafür vonnöten sind. Sich bloß keine Sehnenscheidenentzündungen einzuhandeln. Geschmeidige und starke Finger zu haben. Mehr als alles andere geht es in einem Leben als Pianistin darum, die raschen Phrasierungen einer Fuge von Bach oder die großen Sprünge in einer Etüde von Chopin ohne Verzögerungen zu spielen, ohne den Anflug eines Fehlers, mit derselben Leichtigkeit und Eleganz, die man auch von einem Turner erwartet. So hat sie es von Kindesbeinen an geübt. Wenngleich es immer noch ein weiter Weg bis nach oben zu den Klaviervirtuosen ist, die sie wirklich bewundert, weiß Ellen ganz genau, dass sie Talent hat und dass sie es in sich trägt, als Pianistin Karriere zu machen. Dieser Weg beginnt mit ihrem Debütkonzert im Frühjahr. Obwohl draußen der Weltkrieg tobt, und obwohl Norwegen besetzt ist, verlaufen die jährlichen Konzerte und Talentwettbewerbe wie geplant. Im kommenden Frühjahr wird sie sich an den Flügel in der großen Aula setzen dürfen. Auf dem Pianohocker unter Munchs strahlender Sonne, so hat sie es sich vorgestellt, immer