Kapitel 1
Ich saß am Schreibtisch und war unproduktiv. Ich sah aus dem Fenster.
So groß war der Hund gar nicht, aber offenbar recht kräftig, denn er zerrte die alte Frau mit beeindruckender Lässigkeit hinter sich her über die Kreuzung. Farbenblind schien er auch zu sein. Die Fußgängerampel stand eindeutig auf Rot. Ein hellblauer VW bremste in letzter Sekunde, die Frau ließ den Hund los, er raste zielstrebig auf die kleine Grünanlage zu, und sie humpelte hastig von dem blauen VW weg. Dem Fahrer war der Motor abgestorben, hinter ihm bildete sich sofort die obligate hupende Autoschlange. Die Frau hatte die Anlage jetzt auch erreicht und wartete, bis ihr Hund die ersten drei Bäume absolviert hatte und zum Sandkasten lief, um sich größeren Vorhaben zu widmen.
Auf Welle Bayern 3 sang einer etwas vonsunshine, happy sunshine, aber das weiß man ja, daß die Schlager alle gelogen sind. Die Wolkendecke über den Dächern zog sich auch immer mehr zusammen, und in spätestens einer Stunde würde es schütten. Hoffentlich. Ich arbeite viel lieber, wenn ich drin im Trocknen sitze und draußen die Leute naß werden, als wenn ich mich totschwitzen muß, während die anderen zum Baden fahren. Ich starrte also voller Erwartung hinaus und kaute an meinem Kugelschreiber (macht nicht dick und enthält keine Pflanzenschutzgifte), als das Telefon läutete. Hocherfreut über die Ablenkung nahm ich den Hörer auf.
»Du wolltest dich doch melden!«
Typisch Uwe. Kein »Guten Tag« oder »Wie geht es dir, Schätzchen?«, sondern erst mal ein Vorwurf. »Keine Zeit«, knurrte ich zurück.
»Sitzt du immer noch an dem Buch?« Immer noch war gut, ich hatte noch nicht einmal angefangen.
»Glaubst du, das geht so schnell? Es handelt sich schließlich um ein großes Werk.«
»Ich denk, du schreibst einen Krimi.«
»Kriminalroman«, sagte ich prononciert, aber Uwe ist ein Banause ohne Sinn für Zwischentöne. Er erzählte irgend etwas von einem neuen vielversprechenden Kunden, ich schaute aus dem Fenster. Vor der Bank hielt ein gepanzerter Geldtransporter; zwei Lederjacken mit umgeschnallten Pistolenhalftern trugen Geldsäckchen hinein. Nebenan kam ein Pärchen mit einem Schaukelstuhl aus dem Antiquitätengeschäft, sie ging mit dem schweren Teil vorn, er dirigierte von hinten. Mir fiel prompt die ganze Gedankenkette von unbezahlten Möbelrechnungen, Steuerschulden, Säumniszuschlägen und meinem überzogenen Bankkonto ein. Die Versuchung, Uwe anzupumpen, war groß, aber ich widerstand mannhaft. Kann man als Frau mannhaft …? Na, egal. Ich pumpte Uwe also nicht an, denn er hätte das womöglich als Heiratsversprechen aufgefaßt. Außerdem, als mein Steuerberater und sogenannter fester Freund, wußte er ohnehin genau, daß ich pleite war; da hätte er mir doch von sich aus was anbieten können. Das hätte ich durchaus als positiven Zug gewertet. Aber ich wartete vergeblich. Nach ein paar düsteren Andeutungen und einer letzten Frist von fünf Minuten kniff ich ihm den Faden ab.
»Tut mir leid, aber jetzt muß ich wieder was tun.«
»Können wir uns nicht wenigstens auf eine Tasse Kaffee treffen?«
»Ich sag dir doch, ich hab keine Zeit.«
»Eine halbe Stunde wird doch wohl drin sein!«
Schon der Ton, mit dem er das sagte … Nicht das geringste Einfühlungsvermögen. »Nein, eben nicht. Ich bin da gerade an einer schwierigen Passage.«
»Wenn man was will, dann kann man's auch«, beharrte er.
Und hatte nicht ganz unrecht. Ich wollte nicht.
Sein Ton wurde quengeliger: »Und gestern abend hast du auch keine Zeit gehabt, wie? Mußtest ja arbeiten. Leider hat Gert dich gesehen. In der Grünen 8. Mit so einem Typen, mit dem du reichlich …«
»Das waren Recherchen«, unterbrach ich ihn. »Tschüs.« Ich legte auf.
Zwei Sekunden später läutete es wieder. Ich ließ es läuten. Das fehlte mir gerade noch – Uwes endlose Diskussionen über Eifersucht und Freiheit oder womöglich über Liebe und Treue … Ich riß ein neues Zigarettenpäckchen auf und steckte mir eine an. So ein Kacknest wie Schwabing gibt's auch nicht noch mal. Keinen Schritt kann man machen, ohne daß einen einer dabei sieht und alles weitertratscht. Daß sich so einer wie Gert überhaupt in die Grüne 8 reintraute. Gesehen hatte ich ihn jedenfalls nicht. Okay, zugegeben, ich war auch mit was anderem beschäftigt gewesen. Max hieß er. Ein unheimlich scharfer Typ. Angeblich hatte er schon mal gesessen. Na gut, vermutlich wegen Suff am Steuer. Immerhin hatte es mir ziemlich gestunken, als er so plötzlich verschwunden war. Aber im Moment gab's für mich sowieso nur eins: die dichterische Askese … Ich rückte den Stapel leerer Bogen zurecht.
Dann sah ich wieder aus dem Fenster.
Es tröpfelte schon ein bißchen. Wenn mir doch bloß was einfallen würde. Das heißt, eingefallen war mir ja schon reichlich genug. Ein Klasse-Plot von einem Jungen, den seine Eltern praktisch dazu zwingen, sie zu ermorden, eine wunderschöne Parabel für Täter und Gesellschaft. Aber die Geschichte haben und sie hinschreiben sind zwei Paar Stiefel. Ich schielte nach dem Kalender. Schon der 20.! Und der endgültige Termin war … Nur nicht dran denken. Entspannen, lockern. Ich zog ein Blatt in die Schreibmaschine und schaltete sie an. Sie surrte aggressiv. Ich knipste sie wieder aus und starrte aus dem Fenster.
Vor der Bank hielt ein grüner Peugeot. Die Türen auf der recht