: Benjamin Myers
: Strandgut Roman. Vom Autor des Bestsellers ?Offene See?
: DuMont Buchverlag
: 9783755810834
: 1
: CHF 17.80
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 288
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Earlon »Bucky« Bronco hat mit seinen siebzig Jahren noch nie das Meer gesehen. Und doch treibt er seit dem Tod seiner Frau durch Chicago wie ein Schiffbrüchiger. Zwischen Bett und Walmart-Apotheke zählt er die Stunden bis zum Ende. Da erreicht ihn eine unerwartete Nachricht: eine Einladung zu einem Soul-Festival im englischen Scarborough. Tatsächlich hat Bucky eine Vergangenheit als Soulsänger, doch in den USA sind seine wenigen Songs längst vergessen. An der britischen Küste angekommen, begreift er, dass er hier eine Art Legende ist. Und er trifft auf Dinah, eine melancholische und lebenskluge Mittfünfzigerin, die ihren deprimierenden Alltag am besten vergessen kann, wenn sie Buckys Lieder hört oder sich in die kalte Nordsee stürzt. Benjamin Myers erzählt von zwei Gestrandeten, von den Stürmen des Lebens und dem Sog der Erinnerung. Vor allem aber erzählt er vom Meer, auf dessen Oberfläche immer ein Streifen Hoffnung schimmert.

BENJAMIN MYERS, geboren 1976, ist Journalist und Schriftsteller. Für seine literarischen Arbeiten hat er mehrere Preise erhalten. Sein Roman>Offene See< (DuMont 2020) stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und wurde mit dem Preis des unabhängigen Buchhandels als Lieblingsbuch des Jahres ausgezeichnet. 2021 erschien>Der perfekte Kreis<, 2022>Der längste, strahlendste Tag< und 2024>Cuddy - Echo der Zeit< (alle DuMont). Er lebt mit seiner Frau in Nordengland.

Until the Wheels Fall Off

In den frühen Morgenstunden, als der Himmel noch einen Rest Mondlicht verströmte, fingen die Möwen an, als folgten sie alle einem unsichtbaren Signal. Vielleicht war es ja so. Bucky war sofort wach. Ob er überhaupt geschlafen hatte, er wusste es nicht und verspürte keine der Wohltaten, die eine längere Bewusstlosigkeit hätte mit sich bringen müssen. Ein Tag war einfach in den anderen übergegangen, und er war das Opfer eines besonderen fiebrigen Anfalls von Schlaflosigkeit.

Flach lag er da und fühlte sich wie ein Negativ-Porträt seiner selbst, ausgebleicht und dem Blick entschwindend, beinahe blutlos. Schwer lag sein Körper auf der eingesunkenen Matratze, und der pulsierende Schmerz, der ihn quälte, war so emotional wie körperlich. In eine aufrechte Haltung zu kommen schien undenkbar, lächerlich.

Der Vogellärm war überall, oben, unten, bewegte sich im Raum vor dem verschlierten Fenster umher, kam aber vor allem direkt vom Gesims davor. Sie waren so mächtig und klangen so nah. Es war, als säßen die Möwen in den Mauern des Hotels, oder gar in seinem Zimmer, seinem Bett, unter der Decke und drangsalierten ihn mit ihren Tiraden. Ihr Geschrei klang so quälend wie gequält, als kämpften da etliche Trupps gegeneinander. Es war fürchterlich, infernalisch, eine Marter.

Schweiß durchnässte das Laken, das Bucky mit seinen nächtlichen Verrenkungen von der Matratze getreten und das sich um sein pochendes Bein gewickelt hatte. Die Decke hing halb auf dem Boden. Bucky fühlte die Morgenkälte, sie stach bis tief in seine Knochen. Ein stählerner, gramvoller Schmerz pulsierte in ihm. Keine Hitze, keine Wärme vermochte da Erleichterung zu bringen. Tränen sammelten sich in seinen Augen und ließen das Zimmer glasig werden.

Zu diesen Entzugserscheinungen war es schon mehrere Male gekommen, aber noch nie so weit von zu Hause entfernt, und Maybell war immer da gewesen und hatte ihm feuchte Tücher auf die Stirn gelegt, eine würzige Suppe mit Würstchen und Reis gekocht, sein Rezept abgeholt – oder vielleicht sogar etwas anderes Kleines gefunden, um ihm über die Runden zu helfen, als der volle Schrecken um sich griff, genau wie er es jetzt tat. Ein rachsüchtiger Gott übte schwere Vergeltung für Buckys sündige Schwächen. Anders konnte er es nicht beschreiben.

Bucky erhob sich aus seiner verschwitzten Grube, benommen und halb im Delirium, wie ein Wiedergänger. Erst saß er so da, hob dann die Beine aus dem Bett und stellte die Füße auf den Boden, stand auf und folgte dem bescheidenen Streifen fahlen Lichts, der von der Öffnung im Vorhang auf den Teppich fiel. Einen Moment verharrte er, um schließlich den Vorhang mit aller Kraft, die er aufzubringen vermochte, aufzureißen.

Eine große Möwe saß da und starrte Bucky an, als hätte sie auf ihn gewartet, als wäre ihr Schreien ein Versuch gewesen, ihn herbeizuholen. Diese Möwe war es auch, wie er begriff, die während der langen Stunden seiner rastlosen Nacht für das grässliche Klopfen ans Fenster verantwortlich gewesen war. Was ihn sich ganz und gar nicht besser fühlen ließ. Es machte ihn höchstens noch wütender, genau wie ihr launisches Schweigen jetzt.

So aus der Nähe sah er, was für ein riesiges, überfressenes weißes Viech sie war, nichts als Fleisch, Federn und Aasfresser-Gier. Ihr Schnabel glich zwei Klingen eines geschlossenen Klappmessers. Die grauen Flügel waren angelegt, die beiden Schwimmfüße vielleicht das Widerlichste, was Bucky je gesehen hatte, die ledrige Haut zwischen den Zehen, dazu die schwarz glänzenden, prähistorisch aussehenden Krallen. Sie zeugten von Angriff, Tod und dem gnadenlosen Ausweiden ihrer Opfer. Ein Urviech.

Tatsächlich waren es die Augen des