Zwischen Umbruch und Aufbruch –Das Rufen eines Sehnsuchtsortes
»Überall geht ein früheres Ahnen dem späteren Wissen voraus.«
Alexander von Humboldt
Als sich die Tür des Flugzeuges Anfang September des Jahres 1996 am Flughafen Gimpo öffnete und die schwül-heiße Luft des koreanischen Spätsommers meine Schläfen in einen Schraubstock spannte, spürte ich sofort, dass alles, was jetzt kommen würde, so anders sein würde als das, was ich schon erlebt hatte. Allein der Geruch hier war so fremd und für einen kurzen Moment stand ich wieder im Kunstbedarfsladen in Mailand, hinter der jungen koreanischen Frau.
Abgeholt wurde ich am Flughafen von Woong, einem Sohn der Gastfamilie und eben jenem Freund von Stella. Auch er hatte in Mailand studiert und sprach ein gutes Italienisch. Er wirkte froh, einen italienischen Gast begrüßen zu können, und wir unterhielten uns ausgiebig auf dem Weg zu seinem Zuhause.
Auf der Fahrt fielen mir die unzähligen Apartment-Wohnblöcke auf, die den breiten Han Fluss säumten und die vorherrschende Bauweise zu sein schienen. Auch meine Gastfamilie lebte in einem ähnlichen Wohnblock. Als Europäer war ich es nicht gewohnt, in großen Wohnanlagen zu wohnen. Jugendstilvillen waren angesagter, mit ihren hohen Decken und alten Gemäuern. Aber gut.
Ich war entspannt und ließ mich auf alles ein. Meine Grundstimmung war positiv. Als wir die Wohnung erreichten, war die Gastmutter da und begrüßte mich mit einem sehr freundlichen, etwas verlegenen Lächeln. Sie zeigte mir mein Zimmer, welches ich für mich allein hatte. Das Bad sollte ich mit Woong teilen, dessen Zimmer gegenüber lag. In meinem Zimmer stand der einzige Personal Computer des Hauses und er hatte die erste Version von Windows mit Internetzugang, was für mich eine absolute Sensation war, zumal ich die Erlaubnis hatte, ihn zu benutzen. Der anschwellende Klingelsound beim Hochfahren des Rechners ist mir heute noch so präsent, als wäre es gestern gewesen.
Mit meiner Gastfamilie hatte ich einen Glückstreffer gelandet. Die Mutter war eine außergewöhnlich freundliche Person, zu deren Leidenschaften das Kochen und das Erlernen der japanischen Sprache zählte. Der Vater war ein hoher Beamter in einem Ministerium und die beiden Söhne durchwegs nette Kerle. Woongs Bruder hieß Lim und arbeitete bei einem US-Koreanischen IT-Unternehmen im Stadtteil Yeouido9, damals in Nachbarschaft von SBS und KBS, den koreanischen Fernsehsendern. Er sprach sehr gut Englisch und hat mich ziemlich rasch zu sich in die Firma eingeladen. Als er mir sein Büro zeigte, antwortete er auf meine Frage, wie lange er hier arbeiten wolle, nicht ohne Stolz in der Stimme: »Hendrik, du musst eines wissen: Eine Firma in Korea ist so etwas wie eine Familie. Du fängst an, in einer zu arbeiten und du lebst in ihr. Ich verbringe die meiste Zeit hier. Nach der Arbeit gehe ich mit meinen Kollegen essen und trinken oder zum Golf spielen. Ich werde immer hier arbeiten. Die Firma sorgt für einen. Wir können uns aufeinander verlassen. Jederzeit.« Dass diese Worte aufgrund der Asienkrise bald eine besondere Brisanz bekommen sollten, war uns beiden damals noch nicht klar. Nach der Firmenführung machten wir einen Abstecher zur Golfübungsanlage, wo er gewöhnlich während der Mittagspause Bälle schlug. Es sind spezielle wohnblockgroße Käfige über mehrere Etagen, in denen zumindest das Abschlagen des Golfballes geübt werden kann, denn die richtigen Golfplätze liegen überwiegend außerhalb der Stadt. Ich war begeistert von dieser so andersartigen Arbeitskultur.
Nach nur wenigen Tagen der Akklimatisierung begann mein Koreanisch-Kurs. Der Weg mit der U-Bahn dauerte rund 40 Minuten und führte über eine lange Brücke über den Han-Fluss. Seit dem ersten Mal, als ich den Fluss querte, war der Weg über die Brücke immer ein erhebender Moment für mich. Bis heute ist das so geblieben. Von der U-Bahn-Station Shinchon bis zum KLI-Gebäude auf dem Yonsei Campus war es nochmals ein strammer Fußmarsch entlang am Severance Krankenhaus.
Zu Beginn des Studiums gab es für die neuen Studenten in einem großen Hörsaal einen Empfang. Eine Vielzahl von Reden wurden zur Begrüßung gehalten; eine davon hat sich bei mir besonders eingeprägt. Es war die Rede eines älteren, hochgewachsenen Amerikaners mit weißem Haar, er war wohl so etwas wie ein Botschafter gewesen. Unter anderem sagte er: »Ich lebe nun auch schon einige Jahre in Korea und es hat lange gedauert, bis ich mir über verschiedene Dinge bewusst geworden bin. Eines der Dinge ist, dass sich die Menschen hier andere Märchen erzählen als bei uns.