Auf dem weißen Lehrerpult, der beinahe so alt wie der Untergang der DDR ist, steht ein karger Adventskranz, aus dem in der Mitte eine rote Kerze herausragt. In der ehemaligen Grundschule für besonders anständige Sozialisten der Landeshauptstadt Potsdam, der Max-Dortu-Schule, pflegen sie die sozialistischen Traditionen der Deutschen Demokratischen Republik noch in den 2020er Jahren der bundesrepublikanischen Wirklichkeit. Aber an der fest im kapitalistischen System verankerten Weihnachtszeit kommt niemand vorbei, denn kein noch so gefestigter atheistischer Lehrer möchte sich den Unmut der aus dem Westen zugezogenen Eltern zuziehen. Frau Schindler baut sich vor dem Pult auf. Ihr Körper ist über einen Meter achtzig groß und sie wirkt hager.
„Jetzt singen wir ein Weihnachtslied aus dem mitteldeutschen Kulturkreis“, sagt sie und schüttelt die kurzen, blond gefärbten Haare, die keinen gesunden Eindruck machen. „‚Guten Abend, schönen Abend, es weihnachtet sehr‘“, verkündet sie und der Widerwillen gegen ihre eigene Ansage ist spürbar und ihr Körper steht völlig unter Strom, das Ganze so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
Die vier Jahrzehnte Schuldienst haben sichtbare Spuren hinterlassen. Die 6. Klasse, die als Vorzeigeklasse der Schule gilt, stimmt nach den ersten paar Takten ins Lied mit ein, aber Hippos Lippen kleben, wie mit Sekundenkleber behaftet, aufeinander und beben. In seinem Kopf herrscht ein Wirrwarr an Gedanken. An Klarheit oder Entschlusskraft ist nicht zu denken. Noch nie hat er sich so einsam und verloren gefühlt. Sein Leben ist dabei, ins Unscharfe zu verschwimmen und er fragt sich verzweifelt, wo er den dringend benötigten Halt finden kann. Er spürt die Abwesenheit seiner Mutter, und jeder Tag ohne sie macht es schlimmer. Seine Mutter war es, die dem Weihnachtsfest den nötigen Hauch an Leben, Liebe und Heiligkeit verlieh. Er denkt an die jedes Jahr mit Sorgfalt und fantastischem Ideenreichtum festlich geschmückte Wohnung. Dieses Jahr Fehlanzeige, denn Papa hat nicht einmal die Kisten mit dem Weihnachtsplunder aus dem Keller geholt. Und sobald er ihn darauf anspricht, möchte er nichts davon hören. Sein Vater und Hygieia erwähnen die Adventszeit mit keiner Silbe und leben, als ob nichts Besonderes sei. Dabei ist Weihnachten das Fest aller Feste. Überhaupt vermisst er die soziale Interaktion, denn er hat den Eindruck, seine Schwester und sein Vater ziehen ihr Ding durch, und er ist ihnen reichlich egal. Nur bei seiner Mutter fühlt er sich nicht als fünftes Rad am Wagen. Die Stimmen seiner Klassenkameraden und die schiefen Töne schwellen an und verursachen Kopfschmerzen.
„Nicht alle scheinen wegen des bevorstehenden Winterfests Freude zu empfinden“, sagt die Lehrerin mit gerunzelter Stirn. „Was ist los, Hippo? Du bist doch sonst immer Feuer und Flamme, wenn es um die Feierstunde vor dem christlichen Fest ging.“ Die Klasse dreht sich zu ihm um und