Fragen der Verletzbarkeit
Meine Patentante, von mir als Kind liebevoll »Goo« genannt, war eine beherzte, fröhliche, zupackende Frau, die beim plattdeutschen Erzählen von Geschichten, die sich im Dorf zugetragen haben sollten, gern herzhaft lachte und sich dabei auf die Schenkel schlug. Sie war es, die mich auf das Thema Verletzbarkeit brachte. Reagierte ich als Kind in ihren Augen zu verletzlich, belehrte sie mich: Auch sie sei früher so verletzbar gewesen, habe dies aber abgelegt, als sie 25 Jahre alt gewesen sei. Diese vehement vorgetragene Lektion in Sachen Lebensführung unterstrich sie stets mit einem kraftvollen waagerechten Strich in die Luft, so als würde man etwas abschneiden. Mit 25, so fand ich bald heraus, hatte Goo geheiratet; eine Ehe, die fast 50 Jahre dauern sollte.
Die Verletzbarkeit ablegen. Ich stand diesem Ratschlag stets mit großem Staunen, ungläubiger Bewunderung und vagem Unbehagen gegenüber: Wie konnte man die Verletzbarkeit einfach ablegen? War sie nicht etwas, das zum Leben dazugehörte? Einerseits schien es mir verlockend, nicht verletzlich zu sein – welche Möglichkeiten zum Handeln würden sich im Verhalten zu anderen Kindern ergeben, dachte ich, wenn man nicht mehr aufpassen musste, dass eine Beleidigung, ein Schlag, eine Ungerechtigkeit weh tun würde.
Andererseits schien mir die Verletzbarkeit an etwas Positives geknüpft, das ich aber irgendwie nicht fassen konnte. Würde mit dem Verlust der Verletzbarkeit nicht auch etwas verlorengehen, das wichtig für mein Leben war? Brauchte man die Verletzbarkeit denn nicht? Und was ist sie überhaupt?
Goos Ratschlag, die Verletzbarkeit abzulegen, abzuschneiden, abzuschaffen, reiht sich ein in eine lange Geschichte der menschlichen Träume davon, die eigene Verletzbarkeit zu besiegen: Sowohl die griechische als auch die germanische Mythologie kennen den Mythos der Unverwundbarkeit. So will die Meernymphe T