Prolog
In dieser Nacht sollte die Blaue Fee nicht auf Wünsche hören, schon gar nicht auf Wünsche aus der verschlafenen kleinen Stadt Pariva. Aber sie spürte einen Stich im Herzen, als sie über die niedrigen Dächer und die engen gepflasterten Gassen flog, und wollte das nicht ignorieren.
Es war schon spät am Abend und in den meisten Häusern schliefen die Bewohner bereits. Nur eine Handvoll Fenster wurden noch von Kerzenlicht erhellt. In ihnen bemerkte die Blaue Fee aufgeregte Gesichter von Kindern und Erwachsenen, die laut riefen: „Seht nur da oben! Eine Sternschnuppe! Und sie leuchtet besonderes hell!“
Und genauso war es auch. Sie leuchtete so hell, dass ihr Licht die Sterne und sogar den Mond in ihrer Nähe überstrahlte.
„Schnell, schnell!“, hörte die Blaue Fee ein Mädchen rufen. „Sie wird vergehen! Wir müssen uns rasch etwas wünschen! Ich wollte schon immer mal eine Sternschnuppe sehen. Und jetzt ist sie da!“
Lächelnd ließ die Blaue Fee sich auf dem Dach des alten Glockenturms von Pariva nieder. Ihre silbernen Schühchen klingelten ganz leise, als sie auf den alten Dachschindeln landete. Der Glockenturm war verlassen, aber selbst wenn das nicht so gewesen wäre, hätte niemand sie bemerkt. Sie war unsichtbar, so wie alle ihrer Art, jedenfalls wenn sie es wünschte. Auf diese Weise konnte sie ihren wichtigen Aufgaben nachgehen, ohne beobachtet zu werden.
Gerade heute war sie besonders dankbar für diese Fähigkeit. Natürlich wusste sie, dass es albern war. Denn inzwischen gab es niemanden mehr in Pariva, der sie erkannt hätte, selbst wenn sie direkt vor ihm oder ihr gestanden hätte. Und trotzdem spürte sie diesen Stich im Herzen immer deutlicher.
Pariva war ein kleines Städtchen, so unbedeutend, dass es auf kaum einer Landkarte von Esperia eingezeichnet war. Es wurde von Bergen und dem Meer begrenzt und schien damals von der Außenwelt nahezu unberührt zu sein. Die Schule sah immer noch so aus wie früher, genau wie der Marktplatz und die Via Mangia – eine Straße mit Lebensmittelläden, darunter die hochgeschätzte Bäckerei Belmagio. Zypressen, Lorbeerbäume und Pinien säumten noch immer den großen Platz im Zentrum, wo die Einheimischen sich zum Plaudern oder Schachspielen oder auch zum Singen trafen.
Waren wirklich schon vierzig Jahre vergangen, seit sie von hier fortgegangen war? Es kam ihr vor, als wäre sie gestern noch durch die schmalen Gassen von Pariva gelaufen, in der Hand einen Sack mit Pinienkernen für die Bäckerei ihrer Eltern.Weißt du noch, wie du immer am Hafen stehen geblieben bist, um zuzuschauen, wie die Fischerboote über das glitzernde Wasser glitten?
Damals war sie noch eine Tochter gewesen, eine Schwester, eine Freundin. Ein zierliches Mädchen, das bei ihren Eltern in einem bescheidenen zweistöckigen Haus an der Via Constanza wohnte, mit einer narzissengelben Tür und einer Steintreppe, die in einen kleinen Innenhof führte. Dort hatte ihr Vater einen Kräutergarten angelegt. Und es hatte ihn immerzu betrübt, wie sehr die Minze wucherte, wo er doch vor allem Basilikum ziehen wollte.
Die Kräuter kamen in den Teig der Brote, die ihre Eltern in ihrem Bäckerladen verkauften. Vater backte die salzigen, Mutter die süßen Teigwaren, darunter Mandelkekse, dick überzogen mit Zitronencreme, Schokoladenbiskuits mit Haselnusspralinen und ihre berühmten Zimtplätzchen. Die Blaue Fee war mit glitzernden Zuckerkristallen an ihren Fingerspitzen aufgewachsen und Mehlstaub, der auf ihren Haaren glänzte wie Schnee. Ihr älterer Bruder Niccolo hatte den zickigen Ofen immer wieder in Gang gebracht und ihre Mutter horchte gerne auf das Knacken der goldbraunen Kruste, bevor die Brote zu singen begannen. Einmal war die Zunge ihrer kleinen Schwester Ilaria ganz grün gewesen, weil sie zu viele Pistazienküchlein verspeist hatte. Über allem hatte etwas Magisches gelegen, vor allem aber in dem Lächeln ihrer Mutter, ihres Vaters und ihrer Geschwister, wenn nach der täglichen Verkaufstour noch etwas von dem Schokoladenkuchen übrig war und sie sich mit ihren kleinen Gabeln erwartungsvoll ein saftiges Stück abstachen.
Nach dem Abendessen hatte sich die Blaue Fee mit ihren Geschwistern ins Blaue Zimmer zurückgezogen, um zu musizieren. Dort waren die Wände blauer als der Himmel im Hochsommer und die Fenster geschwungen wie Regenbögen. Es war ihr Lieblingszimmer im ganzen Haus gewesen.
Die Erinnerungen stimmten sie fröhlich und wehmütig zugleich. Unwillkürlich suchte sie nach ihrem früheren Zuhause. Das Haus war immer noch da, die gelbe Tür verblichen, und das Dach musste ausgebessert werden. Niemand stand am Fenster und wartete auf eine Sternschnuppe.
Mit einem tiefen Seufzer wandte sie sich von dem Haus ihrer Kindheit ab und nahm den Rest der St