: Matthias Glaubrecht
: Das stille Sterben der Natur Wie wir die Artenvielfalt und uns selbst retten
: C.Bertelsmann Verlag
: 9783641325473
: 1
: CHF 15.30
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: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 224
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Gefährliche Ignoranz: Wir befinden uns mitten in einem weltumspannenden Artensterben – Wie falsche Weichenstellungen in Politik und Gesellschaft unsere natürlichen Lebensgrundlagen bedrohen und was wir tun sollten

Von vielen unbemerkt verschwinden immer mehr Tiere und Pflanzen aus unserer Umwelt, was unsere Lebensgrundlagen zunehmend gefährdet. Der bekannte Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht klärt seit Jahren über die Bedeutung der Artenvielfalt und die verheerenden Folgen des Artensterbens auf. Hier beschreibt er Gründe, warum wir die Krise der Biodiversität zu wenig wahr- und zu wenig ernst nehmen: Wir fokussieren zu sehr auf den Klimawandel, hinzu kommen das Versagen des klassischen Naturschutzes und eine oft verfehlte Wissenschaftspolitik, die ökologische und biosystematische Forschung zu wenig fördert. Glaubrecht ruft dazu auf, endlich zu handeln: das heißt, ausreichend große Naturschutzgebiete konsequent für funktionierende Lebensgemeinschaften zu schützen, zu renaturieren und die Biodiversitätsforschung voranzutreiben.

Der Evolutionsbiologe und BiosystematikerMatthias Glaubrecht, Jahrgang 1962, ist Professor für Biodiversität der Tiere an der Universität Hamburg und wissenschaftlicher Leiter des Projekts Evolutioneum/Neues Naturkundemuseum Hamburg am Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels. Er war zuvor Gründungsdirektor des Centrums für Naturkunde der Universität Hamburg und Leiter der Abteilung Forschung am Museum für Naturkunde Berlin. Glaubrecht schreibt regelmäßig für Zeitungen und Zeitschriften wie »Die Zeit«, »Die Welt« und »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, war an TV-Produktionen beteiligt und hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter »Das Ende der Evolution. Der Mensch und die Vernichtung der Arten« (2019). Für seine Arbeit erhielt er 1996 den Werner und Inge Grüter-Preis für Wissenschaftsvermittlung, die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung zeichnete ihn 2023 mit dem renommierten Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa aus.

Am Anfang vom Ende? – Worum es wirklich geht


Am letzten Tag im vergangenen Mai stand ich am Fuß des Vesuvs, inmitten der Ruinen des antiken Herculaneum. Dieser Ort rangierte lange schon ganz oben auf meiner Liste jener Ziele, zu denen ich unbedingt reisen wollte, um sie mit eigenen Augen zu sehen. Nun gab es endlich einen willkommenen Anlass, einen Vortrag an der Stazione Zoologica in Neapel. Am nächsten Tag fuhr ich entlang der Bucht bis nach Ercolano, wo ich mitten in der Ortschaft das archäologische Grabungsgelände der antiken Stätte fand. Zeitgleich mit dem nahe gelegenen Pompeij war auch die kleine Stadt Herculaneum vor zweitausend Jahren beim Ausbruch des Vulkans durch vulkanische Asche, Bimssteinregen und Lava zerstört worden, Tausende Menschen starben. Offenbar hatte der Vesuv damals seinen Gipfel gesprengt und vielen Bewohnern der Ansiedlung keine Zeit mehr zur Flucht gelassen.

Jetzt, an diesem warmen Frühsommertag, breitete sich eine unbeschwerte Ruhe über den Ruinen der antiken Stadt aus, die vor dreihundert Jahren unter den meterhohen Ablagerungen wiederentdeckt wurde. Mittlerweile ist Herculaneum wenigstens teilweise freigelegt und zählt, zusammen mit den archäologischen Stätten von Pompeji, zumUNESCO-Welterbe. Von hier schweifte mein Blick immer wieder hinauf zum wolkenumkränzten Kegel des Vulkanbergs, der sich so scheinbar friedlich im Hintergrund erhob. Doch ich wusste, dass der Schein trügt: Der Vulkanismus am Vesuv ist einer der aktivsten weltweit. Bereits im September und Oktober des Vorjahres hatte die Erde über einige Wochen hinweg wiederholt gebebt, und lautes Grollen und Krachen versetzte die in diesen Dingen eher unerschrockenen Neapolitaner in Angst. Die Beben nahmen zu, im März, April und Mai 2024 rumorte es wieder, Erdstöße bis zur Stärke 4,4 wurden rund um die sogenannten Campi Flegrei, die »brennenden Felder«, im Westen der Stadt gemessen.

Am Rande der Metropolregion Neapel gelegen, in der mehr als vier Millionen Menschen leben, gelten die über hundert Quadratkilometer großen Phlegräischen Felder bei Geologen als größter aktiver Supervulkan – und als einer der gefährlichsten. Kaum mehr als eine Woche vor meiner Reise nach Neapel hatte es in der Region eines der schwersten Erdbeben seit Jahrzehnten gegeben. Die Gefahr eines erneuten Ausbruchs ist inzwischen eindeutig gestiegen, zumal Experten zuletzt Hinweise fanden, dass sich Magma und Gase in nur wenigen Kilometern Tiefe unter den Phlegräischen Feldern ansammeln. Doch das verdrängen die Neapolitaner meistens erfolgreich.

Als ich wenig später oben auf dem Gipfel des Vesuvs am Kraterrand stand und von dort über die dichten Ansiedlungen blickte, die sich bis zur im Dunst verschwindenden Großstadt erstreckten, fragte ich mich mit leichtem Schaudern, wie die Menschen wohl auf den nächsten größeren Ausbruch des schlummernden Vulkans reagieren. Niemand weiß, wann dies sein wird; doch er wird kommen. Eine Evakuierung der gesamten gefährdeten Region wird eine Herkulesaufgabe sein. Und wenn der rumorende Vesuv oder die »brennenden Felder« wieder aus- und aufbrächen, wäre dies nicht nur eine Katastrophe für Neapel und die nähere Umgebung. Die zu erwartenden meterdicken Ascheschichten, unter denen Mittelitalien versinken würde, wären dabei nur ein kleiner Teil der Katastrophe; betroffen wären außerdem die Infrastruktur und die Ernährung von vielen Millionen Menschen in Europa und vielleicht darüber hinaus. Ein großer Vulkanausbruch im Mittelmeerraum dürfte wegen seiner Auswürfe und Gase, die kilometerweit hinauf in die Atmosphäre ziehen, weitreichende Konsequenzen haben und könnte unter Umständen sogar unser Klima, die Umwelt und damit das Leben rund um den Erdball massiv beeinflussen.[1]

Aber die Bewohner der Stadt und der Umgebung des Vesuvs sind, wie mir schien, geradezu demonstrativ gelassen und erfreuen sich ihres mediterranen Lebens am Golf von Neapel. Wenn sie doch einmal, wie unlängst, eines der stärkeren Beben beunruhigt, ist dies bald darauf wieder vergessen – ebenso, dass sie wie ihre Vorfahren seit Tausenden von Jahren mitten in einer der tektonisch gefährlichsten Regionen Europas und der Erde leben.

Ähnlich wie die Neapolitaner, das wurde mir dort am Vesuv inmitten der Zeugnisse historischer Zerstörung einmal mehr klar, verdrängen wir alle – die inzwischen