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Einblicke
Mit dem Jahr 1989 begann eine neue Epoche der Weltgeschichte und so wie ich dachten viele: Eine bessere Zeit bricht an mit positiven Entwicklungen für Deutschland und die gesamte Welt. Heute, gut 35 Jahre später, macht sich Ernüchterung breit: die verheerenden Auswirkungen des Klimawandels und Artensterbens, die Folgen der Covid-Pandemie, die bis heute nachwirkende weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise, Kriege, Gewalt, Terror, globale Machtkämpfe, stetig zunehmende Migration weltweit. Man fragt sich: Wo sind die Kräfte des Zusammenhalts? Was ist mit Solidarität? Erreichen wir noch einmal Frieden? Und aus meiner speziellen Profession und Verantwortung als Theologe und Bischof frage ich mich natürlich auch: Wie steht es bei all dem um die Bedeutung und den Beitrag der Religion?
Seit Jahren gibt es Diskussionen, wie lange die beiden (noch) großen Kirchen in Deutschland ihre Bedeutung behalten werden. Von den messbaren Zahlen her scheint sich ein unaufhaltsamer Niedergang abzuzeichnen, dem viele Akteure innerhalb und außerhalb der Kirchen relativ ratlos zusehen. Zwar gibt es vielfältige Überlegungen, wie dieser Prozess aufzuhalten sei, Unternehmensberatungen begleiten die Verantwortlichen in der Kirche, Philosophie und Theologie entwerfen Modelle und innerkirchlich gehen die Debatten über Erneuerung, Modernisierung und Evangelisierung weiter. Somit stelle ich mich also in die Reihe der vielen, die über die Zukunft der Kirchen, ja der Religion insgesamt nachdenken. Dabei ist mir bewusst, dass es hier nicht nur um die Zukunft der Religionen oder speziell der christlichen Kirchen geht, sondern um die Zukunft der Gesellschaft. Denn Freiheit und Demokratie sind keine Selbstläufer. Wer will voraussagen, wie sich die offene Gesellschaft, die Demokratie in den nächsten Generationen entwickeln, sich stabilisieren oder unter Spannungen gefährdet werden? Spielt dabei die Präsenz von Religion eine Rolle?
Der Anspruch dieses Essays ist nicht der einer wissenschaftlichen Abhandlung, sondern einer nachdenklichen Intervention. Sie schließt an meinen Denk- und Glaubensweg und an viele vorhergehende Äußerungen zu gesellschaftlichen und theologischen Fragen an. Im Rückblick sehe ich zugleich Entwicklung und Kontinuität. Schon in meiner Dissertation waren Kirche und Gesellschaft sowie die Ortsbestimmung der Kirche in der Moderne die Leitmotive, die mich seitdem immer wieder beschäftigt haben. Durch meine Aufgabenfelder wurde die politische und sozialethische Thematik stärker, die auch hier bedeutsam ist. Für mein Dafürhalten bilden meine Bücher, die bei Kösel erschienen sind, einen Zusammenhang: Glaube, Kirche, Freiheit und Kult. Denn: Wie kann der christliche Glaube heute wirksam werden? Welche Gestalt soll die Kirche in einer offenen Gesellschaft haben, und wie sollte eine vom Christentum, von der Katholischen Soziallehre geprägte Gesellschaft aussehen? Ich hoffe, dass ich diese Überlegungen nun weiterführen kann. Dieses Buch soll auch ein gewisser Weckruf sein, denn es ist zumindest für mich klar, dass sich mit dem Verschwinden der Religionen, mit der nachlassenden Kraft insbesondere des Christentums ein Einschnitt vollzieht, der tiefgreifende Folgen hat. Daran zweifeln auch nicht die Kritiker, ja »Verächter« der Religion. Denn auch für sie ist nicht klar, ob dieses Verschwinden zu einer größeren Aufklärung, einem Zeitalter der Vernunft führt oder »alte Geister« heraufziehen lässt, die regressiv einer »Prämoderne« zuneigen. Auch im Politischen deutet sich einiges an neuer Regression an. Und ich bin sehr besorgt über