Das Geheimnis
Mein Großvater wurde in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges erschossen. Er war kein Soldat, kein Offizier, er hat überhaupt nicht gekämpft in diesem Krieg. Umgekommen ist er trotzdem, und damit fängt das Geheimnis schon an.
Mein Großvater war Chemiker. In der Familie hieß es, er habe in seiner Doktorarbeit untersucht, wie sich die Farbe Kornblumenblau synthetisch herstellen lässt. Ich fand das sympathisch und poetisch: ein Naturwissenschaftler, der sich mit dieser hübschen Farbe beschäftigte.
Sehr viel mehr wusste ich lange Zeit nicht über ihn. Meine Mutter konnte mir nur wenig über ihren Vater erzählen. Sie war dreieinhalb Jahre alt, als er erschossen wurde. Doch obwohl sie ihn kaum kannte, hat sie ihn vermisst. Sie hat das oft gesagt und auch dadurch ausgedrückt, dass sie alles Blaue liebte. Als sie jünger war, hat sie viel gemalt, es waren abstrakte Bilder ohne Namen, und immer wieder experimentierte sie mit Blautönen, mit Azurblau, Himmelblau, Kobaltblau, Königsblau – und Kornblumenblau.
Wenn ich ihr ein Geschenk machen wollte, suchte ich oft nach einer blauen Bluse oder einem Pullover, aber etwas zu finden, das der Farbe der Kornblume entsprach, fiel mir immer schwer. Jetzt erst weiß ich, woran das lag. Ich habe mir die Kornblumenblüte nicht genau genug angesehen. Als ich es neulich einmal machte, stellte ich fest, dass sich ihr Blau aus ganz unterschiedlichen Tönen zusammensetzt, aus hellen und dunklen.
Aber es ist doch merkwürdig, dass ich mich jetzt erst näher mit dieser Farbe beschäftigt habe, obwohl ich sie früh schon mit meinem Großvater verbunden habe. Auch etwas anderes wundert mich, es hängt damit zusammen: Ich wollte immer schon Genaueres über meinen Großvater, sein Leben, seine Arbeit, seinen geheimnisvollen Tod erfahren, und einiges habe ich über die Jahre auch schon herausgefunden, aber nun erst, für dieses Buch, fange ich mit einer echten Suche an. Warum so spät?
Ich glaube, ich bin mit dieser Frage nicht allein. Ich habe es selten erlebt, dass jemand wirklich Bescheid wusste über das, was der Vater, Großvater, Urgroßvater, die Mutter, die Großmutter, die Urgroßmutter im Zweiten Weltkrieg gemacht hat. Im »Zweiten Weltkrieg« bedeutet immer auch: im Nationalsozialismus.
Und trotzdem wundere ich mich über mich selbst. Schon als Jugendliche habe ich eigentlich viel über diese Zeit gelesen und mir Filme darüber angeschaut. Das, was wir heute »Aufarbeitung« nennen, begann erst wirklich in den 1980er Jahren, und viele junge Leute wuchsen damals damit auf.
Aber dass es möglicherweise eine Verbindung geben könnte zwischen meinem Großvater, dem Chemiker, und dem größten deutschen Chemiekonzern seiner Zeit, der I.G. Farben, darauf war ich damals nicht gekommen. Die »Interessengemeinschaft Farbenindustrie«, kurz I.G. Farben, war ein Zusammenschluss der größten deutschen Chemiefirmen – unter anderemBASF, Hoechst und Bayer – und war eng mit demNS-Staat verflochten. Ich wusste auch so ungefähr, dass die I.G. in der Zeit des Nationalsozialismus fast alles dominierte, was mit Chemie zu tun hatte, aber ich bezog es nicht auf meinen Großvater. Es gibt diese Formulierung vom »blinden Fleck«. Ich hatte einen solchen »blinden Fleck«.
Ich weiß noch, wie in den 1980er Jahren der VierteilerVäter und Söhne im Fernsehen lief. Vor einiger Zeit habe ich nachgelesen, worum es darin ging: Die Serie erzählt an einer Familiengeschichte entlang, wie die I.G. Farben sich vom Ersten Weltkrieg an immer enger mit den Mächtigen verbündete und dann zusammen mit dem Nationalsozialismus zugrunde ging. Die Serie war damals ein Ereignis. Es kam selten vor, dass Weltstars wie Julie Christie und Burt Lancaster in einer deutschen Produktion mitspielten. Wenn etwas groß war im Fernsehen, bekam man es durchau