martin hähnel:Da wir hier ein dezidiert philosophisches Gespräch führen, bin ich natürlich daran interessiert zu erfahren, was Sie für einen Philosophiebegriff haben, das heißt was Sie allgemein unter Philosophie verstehen?
vincent c. müller:Da beginnen wir gleich mit einer notorisch schwierigen Frage. Denn die Frage, was die Philosophie ist und wie man philosophieren sollte, ist ja bekanntlich selbst eine philosophische Frage. Darin unterscheidet sich die Philosophie von anderen Wissenschaften, dass sie diese Arbeit selbst machen muss. Mein grober Begriff von Philosophie ist, dass philosophische Fragen immer dann auftauchen, wenn man eine beliebige Frage bis zum Grunde weiterverfolgt; also immer tiefer gräbt. Wenn man das tut, dann kommt man irgendwann zu Fragen, die sich darum drehen, was ein bestimmter Begriff bedeuten soll. Also man fragt sich zum Beispiel: Was ist Freiheit oder was ist Schönheit? Philosophische Fragen haben eigentlich alle diese Form: Was istx? Und für diesesxkommt dann in der Regel ein relativ abstrakter Begriff ins Spiel. Diese Art von Fragen sind also eigentlich begriffliche Fragen, nach meiner Auffassung. Begriffliche Fragen sind in der Geschichte der Philosophie natürlich auf verschiedene Arten und Weisen beantwortet worden.
Meine Herangehensweise an solche Fragen ist, dass wir uns erstens darum kümmern müssen, wie diese Begriffe verwendet werden, also so, wie es die klassischeOrdinary Language Philosophy vorschlägt – das wäre dieAnalyse. Zweitens müssen wir aber darauf schauen, wie es um die Referenten dieser Begriffe steht, wie die Welt beschaffen ist. Und das wird wiederum die Begriffe selbst beeinflussen. Das heißt, man muss die jeweils relevanten wissenschaftlichen Erkenntnisse einbauen, um den Begriff wirklich besser zu verstehen – das wäre die empirische Wissenschaft. So weit handelt es sich bei dieser Auffassung um genau das, was Quine inTwo Dogmas of Empiricism gefordert hat.1 Drittens habe ich eine Sympathie dafür, die Begriffe so auszugestalten, wie wir siebrauchen – das wäre der pragmatische Aspekt. Man nennt das heutzutage »conceptual engineering«2, es ist aber eigentlich nichts Neues. Die Idee ist, dass man bei der Methode der Begriffsanalyse nicht erwarten kann, dass sich die richtige Analyse gewissermaßen vorgefertigt irgendwo finden lässt, sondern man muss die Begriffe in einem gewissen Maße erst für unsereZwecke formen. Und man kann zum Beispiel zu dem Schluss kommen, dass es eigentlich verschiedene Begriffe gibt, die für verschiedene Zwecke nützlich sind. Ich habe zum Beispiel vorhin den Begriff der Freiheit erwähnt. Es ist relativ klar, dass es einen Begriff von politischer Freiheit gibt, der erhebliche Bedeutung hat. Und es gibt einen Begriff von Willensfreiheit, der eine andere Bedeutung in der Philosophie hat, und man sollte, glaube ich, bei solchen Gelegenheiten erkennen und anerkennen, dass es verschiedene Verwendungen bzw. Zwecke für diese Begriffe gibt, und die Begriffe dann dementsprechend ausformen. Schließlich bin ich der Meinung, dass diese grundlegende Arbeit an den Begriffen, die also analytische, empirische und pragmatische Aspekte hat, auch durch die philosophische Arbeit an derKI gemacht werden kann. Ich nenne dasKI-Philosophie, weil auch dieKI eine sehr nützliche Methode ist, mit der man diese philosophische Arbeit verrichten kann.
martin hähnel:Das bringt mich gleich zu einer Anschlussfrage, wenn Sie vonKI-Philosophie sprechen. Diese scheint mir ja vielleicht so eine Art neue philosophische Subdisziplin, ja vielleicht sogar neues Paradigma zu sein, oder? Und da ist natürlich die Frage interessant, wie sich eineKI-Philosophie, die Sie vielleicht dann auch gar nicht so gern als PhilosophiederKIbezeichnen würden, in den Kanon der anderen Disziplinen einordnet. Wie verhält sich ihre Vorstellung vonKI-Philosophie zum Beispiel zu klassischen Fragen der theoretischen Philosophie? Sie hatten in Bezug auf den Freiheitsbegriff bereits erwähnt, dass eineKI-Philosophie sich mit s