KAPITEL 1
Die Neue Welt
Sutton, Connecticut, März 1666
Ein Schatten in tiefster Dunkelheit.
Flüstern …
Zwei Stimmen.
»Nein.«
Weiteres Geflüster – drängend.
»Ich höre euch nicht … Ich kann euch nicht hören. Die Toten hören nichts.«
Ein flüsternder Chor.
»Lasst mich.«
Du musst aufwachen.
»Nein. Ich bin tot, und tot werde ich bleiben.«
Du kannst dich nicht länger verstecken.
»Dort draußen gibt es nichts mehr für mich.«
Es gibt Blut.
»Nein … es reicht. Ich bin fertig damit.«
Sie kommen.
»Lasst mich in Ruhe.«
Sie sind hier, stehen vor deiner Tür.
»Das kümmert mich nicht.«
Wir haben ein Geschenk für dich.
»Ich möchte nichts.«
Blut … Rieche es.
»Nein, ich rieche gar nichts. Ich bin tot.«
Aber der Schatten konnte das Blut durchaus riechen, das ihn umgab, in ihn eindrang, ein Teil von ihm wurde. Und mit dem Blut kam der Hunger – erst nur ein Kribbeln, dann, als der Geruch die Luft sättigte, ein schmerzhaftes Reißen.
»Oh«, stöhnte der Schatten. »Süßes Blut.«
Der Schatten öffnete die Augen, schloss sie, öffnete sie erneut.
Dort im Staub lag ein vierbeiniges Tier. Es war kein Reh, es war überhaupt kein Tier, das er erkannte, sondern ein struppiges Vieh mit gespaltenen Hufen und dicken, gedrehten Hörnern. Sein Bauch war aufgerissen und die Gedärme quollen heraus, in seinen Augen flackerte es und sein Atem ging schnell und flach.
Der Schatten näherte sich dem Tier. Das Vieh fixierte den Schatten mit wildem Blick und begann zu beben, dann zu blöken. Der Schatten ergötzte sich an dessen Angst, schob sich immer näher und näher und steckte Schwaden wie aus Rauch in die warme Masse, um sowohl die Furcht als auch das Blut zu trinken.
Langsam nahm der Schatten Form an. Das Blut zeichnete Venen und Arterien nach, Knorpel, Knochen, Sehnen und Muskeln. Er leckte das Blut auf, dann – als er bemerkte, dass er Zähne hatte – biss er das Tier, vergrub seine Schnauze in den warmen Innereien, verschlang Fleisch und Knochen gleichermaßen. Plötzlich spürte der Schatten ein Pochen in seiner Brust, dann noch eines, und er zuckte erschrocken zusammen. Dann war da ein Herzschlag, der immer schneller wurde. Der Schatten, der nun nicht länger Schatten war, hob den Kopf und stieß ein lang gezogenes Heulen aus.
Gut, sagten die anderen.
»Gut«, sagte der Schatten, der jetzt eine Bestie war. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten hörte er die eigene Stimme von den Höhlenwänden widerhallen.
Bist du noch hungrig?
»Ja.«
Willst du mehr Blut?
»Ja.«
Oben gibt es mehr.
Die Bestie blickte nach oben und entdeckte einen Lichtschimmer am Ende eines langen, schroffen Schachts.
Wie lautet dein Name?, fragten die anderen.
»Das weiß ich nicht mehr«, antwortete die Bestie.
Es wird dir einfallen. Oh, es wird dir einfallen … und ihnen auch.
»Samson!«, rief Abitha und bemühte sich, die Panik in ihrer Stimme zu unterdrücken.
Hastig folgte sie den Spuren gegabelter Hufe, die sich durch die Bündel aus getrockneten Maisstängeln wanden. Da sie das Tier vor nicht einmal einer Stunde gesehen hatte, nahm sie an, dass der Ziegenbock nicht weit sein konnte. Am Rand des Feldes hielt sie an und suchte den dichten Wald Connecticuts ab. Obwohl sämtliche Blätter jetzt, mitten im Winter, auf dem kalten Boden lagen, schluckten die Bäume das Licht und erlaubten es kaum, mehr als 100 Schritt weit zu sehen.
»Samson«, rief sie erneut.»Sam!« Die kalte Luft machte ihre Worte zu Nebel.
Die dichten Wolken am Himmel würden dafür sorgen, dass bald die Dämmerung einsetzte. Wenn sie Samson bis Einbruch der Dunkelheit nicht fand, dann sicherlich die Wölfe oder einer der wilden Männer. Dennoch zögerte sie, wusste sie doch, wie leicht man diesen Wald bet