Die geschichtliche Aufgabe des Protestantismus
Will man den modernen liberalen Protestantismus in seinem innersten Wesen verstehen, so muss man sich vor allem darüber klar werden, dass diese Richtung keineswegs bloß ein Einfall von einzelnen Personen ist, der zufällig bei mehreren Beifall gefunden hat, sondern dass dieselbe die ebenso notwendige Konsequenz des in der Reformation zum Durchbruch gelangten protestantischen Prinzips bildet, wie die päpstliche Unfehlbarkeit die folgerichtige Spitze des katholischen Prinzips darstellt.
Der Katholizismus verlangt Einheit des Glaubens in allen wesentlichen Stücken; was aber wesentlich und was unwesentlich sei, bestimmt er selbst als Kirche, und überlässt diese Bestimmung keineswegs dem Urteil des Einzelnen, weil dadurch sofort der Divergenz der Glaubensmeinungen Tür und Tor geöffnet wäre. Die Grundlage des Glaubens bilden ihm wie der evangelischen Kirche die unfehlbaren kanonischen Bücher; da aber die Auslegung derselben streitig werden kann, so muss zur Wahrung der Einheit des Glaubens notwendig eine inappellable Auslegungsinstanz vorhanden sein. Wäre diese mit bloß menschlicher Einsicht begabt, so wäre dasOpfer des Intellekts denn doch eine zu starke Anforderung; aber die katholische Kirche nimmt nicht mit Unrecht an, dass es ganz ebenso im Interesse des Heiligen Geistes liegen müsse, die inappellablen Ausleger der kanonischen Schriften wie die Verfasser derselben zu inspirieren, und dass eine geistverlassene Kirche, die nur vor Jahrtausenden einmal inspirierte Bekenner besass, ein recht klägliches Ding wäre. Muss aber an die Inspiration der inappellablen Auslegungsinstanz geglaubt werden, so ist es nicht nur überflüssig, den Heiligen Geist mit Inspiration eines ganzen Konzils statt einer einzelnen Person zu inkommodieren, sondern es ist auch störend, dass die Minorität des Konzils der Gnade der Inspiration entbehrt; daher ist es ganz folgerichtig, das jeweilige Oberhaupt der Kirche als inappellable Auslegungsinstanz anzusehen, da die Einheit des Glaubens nicht besser als durch Einköpfigkeit aller Glaubensentscheidungen gewahrt werden kann. Gilt der Papst einmal als Nachfolger Petri, so ist nicht einzusehen, warum er nicht ebenso gut soll unfehlbar inspirierte Bullen schreiben können, wie Petrus unfehlbar inspirierte Episteln schrieb, — obgleich er nur ein ungebildeter Fischer war. Deshalb ist die päpstliche Unfehlbarkeit die längst geforderte Krönung für die Glaubenseinheit des Katholizismus, und alles Gerede gegen dieselbe ist sinnlos im Munde derer, die den Papst als Nachfolger Petri und Petrus als Verfasser unfehlbar inspirierter Episteln ansehen.
Wer hingegen die Unfehlbarkeit der Kirche und die Möglichkeit unfehlbarer Inspiration in der Gegenwart leugnet, wer sich weigert, das Opfer des Intellekts zu bringen, d. h. seine reiflich erwogene zweifellose persönliche Überzeugung den Lehrentscheidungen der Kirche unterzuordnen, wer mit einem Wort gegen die absolute dogmatische Autorität der Kirche protestiert und sich das Recht der freien Forschung und der religiösen Gewissensfreiheit wahrt, der wird kaum umhin können, auch den Glauben an die unfehlbare Inspiration der Verfasser der kanonischen Schriften fallen zu lassen. Wer von der Unmöglichkeit des Wunders für die Gegenwart überzeugt ist, spielt jedenfalls eine wunderliche Rolle, wenn er dessen Möglichkeit für die Zeit vor 1800 Jahren aufrechterhält.
Die Reformatoren merkten es gar nicht, dass ihr Glaube an die Unfehlbarkeit der kanonischen Schriften, den sie mit der Muttermilch eingesogen hatten, ganz ausschließlich auf dem Glauben an die ihn bezeugende Unfehlbarkeit der Kirche und der kirchlichen Tradition beruhte; weil der Glaube an die Unfehlbarkeit der Schrift ihnen persönlich in Fleisch und Blut übergegangen war, darum ahnten sie gar nicht, dass sie mit dem Protest gegen die Unfehlbarkeit der Kirche und Tradition den Boden des ersteren unterhöhlten, dass sie mit ihm den ersten Stein aus dem fest gefügten Gebäude der Hierarchie herausrissen, de