Kunst im Streit
Heinz Bude und Meron Mendel
Die Wirkungsgeschichte der documenta fifteen, die vom 18. Juni bis zum 25. September 2022 in Kassel stattfand, kann man heute nicht mehr ohne den »Gaza-Moment«1 vom 7. Oktober 2023 ermessen. War diese documenta der Dammbruch für einen Neuen Antisemitismus, in dem sich linkes Befreiungspathos mit muslimischen Rachegelüsten mischt? Oder stellt diese documenta eine der »gefährlichen Begegnungen«2 dar, mit denen heute in vielen Einwanderungsgesellschaften aus der OECD-Welt die politische Kultur einer Moderne nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Mord an den europäischen Juden herausgefordert wird? Oder ist auf dieser Weltausstellung mit besonderer Schärfe deutlich geworden, dass die Kunst unserer Gegenwart sich gerade im Bewusstsein ihrer politischen Wirkung allen möglichen Mächten der Aufmerksamkeit3, der Erregung4 und des Einflusses5 an den Hals wirft?
Aus dem heiteren Himmel eines entspannten Ausstellungsereignisses war mit einem Mal ein irres Zeichen von Judenhass aufgetaucht. Viele wollten ihren Augen nicht trauen, aber auf dem am Friedrichsplatz mitten in der Stadt entrollten Banner mit dem TitelPeople’s Justice war die böse Fratze eines Zigarre rauchenden Juden mit Schläfenlocken, Raffzähnen und dem Zeichen der SS auf dem Hut zu erkennen. Was sollte dies auf einer Ausstellung, die sich den Selbstausdruck des »Globalen Südens« auf die Fahnen geschrieben hatte, bedeuten?
Ruangrupa, das kuratorische Kollektiv aus Indonesien, bedauerte diese Entgleisung und verwies darauf, dass ihr Konzept bei der Zusammenarbeit mit den eingeladenen Gruppen und Projekten auf Vertrauen beruhe, Selbstorganisation bevorzuge und Freundschaft zelebriere. Außerdem dürfe man nicht vergessen, dass am Ende lediglich fünf von mehr als tausend dargebotenen Arbeiten Steine des Anstoßes waren.
Sekundiert wurde diese Ansicht von einer ganzen Reihe von ikonografischen Analysen, die ausgehend vom Genre des Wimmelbildes den antisemitischen Charakter des inkriminierten Bildausschnitts kontextualisierten. Im Widerstand gegen die Diktatur von Suharto habe sich die unverstellte Kunst des Volkes antiimperialistischer Motive bedient. Das Bild des Juden überlagere sich, wie in anderen Widerstandsbewegungen des »Globalen Südens« auch, mit dem des Kapitalisten, des US-Amerikaners, des Geheimdienstlers, des Kommandosoldaten, des Börsenmaklers und des Strippenziehers.
Das Problem solcher aus der reinen Beobachtungsperspektive erstellten Lesarten ist die eine jüdische Person6, die vor dem Banner auf dem Friedrichsplatz in Kassel steht und was sie sieht, auf sich bezieht, und sich bedroht fühlt und den Reflex verspürt, dass ihr hier nach dem Leben getrachtet wird. Ist sie ignorant, übertreibt sie, will sie sich nicht in die Nöte der Menschen einfühlen, die sich von einem Diktator befreien wollen?
Euphorisch hatte es bei der Eröffnung der documenta fifteen geheißen: »Diese Documenta wird die Weise ändern, wie wir Kunst sehen, was wir glauben, was eine Ausstellung darstellt.«7 Es war nur unklar, was damit gemeint war.
Eine bestimmte Fraktion von Kulturarbeiter:innen, die dem Kunstbetrieb misstrauen und das Ideal der autonomen Kunst ablehnen, sah sich durch das Programm von ruangrupa in ihrem Streben nach mehr Partizipation, mehr Engagement und mehr Kollektivität in der Kunst bestätigt. Einig fühlten sie sich mit ruangrupa in ihrem eigenen systemkritischen und antihegemonialen Impuls. Sie feierten das dezidiert Unkünstlerische, aber fremdelten mit dem offen Unpolitischen von ruangrupa.
Aber auch den Anhänger:innen einer »nützlichen Kunst«8, die der Kunst den Kunstschein nehmen wollen, bot die documenta fifteen einen Rahmen. Kletterskulpturen, Do-it-yourself-Spiele und Dachpfannenkonzerte prägten eine Ausstellung, die sich niederschwellig, vergnüglich und anregend gab. »Eine lebendige Kunst für alle« lautete hier das Motto, das jedoch die Kluft zwischen einer durch Bildung und Einfluss bevorzugten Elite von Kunstliebhaber:innen und einer dadurch vom Kunsterlebnis ausgeschlossenen Mehrheit deutlich machte. Ruangrupa trennt sich von der Kunst der herrschenden Klasse, um Freundschaft mit dem Volk zu schließen.
Nicht zu vergessen die vielen auf die documenta fifteen eingeladenen Initiativen für ein einfaches, diverses und gesammeltes Leben, die die Schablonen eines »progressiven Neoliberalismus«9 unterlaufen wollen. Nicht als bohemistische Counter-Culture, sondern als Teil eines vielfältigen Exodus aus einer von Angst besessenen Moderne ohne Zukunft. Abgerundet wurde das Ganze durch das Marketing der documenta fifteen, das auf die erfrischende Botschaft aus dem »Globalen Süden« setzte. Das Unbekümmerte, Offenherzige und Heitere der lockeren Gruppe aus Indonesien wurde als Gegenmodell zu einem heldenhaften Kunstdenken einer westlichen Moderne aufgebaut. Ruangrupa selbst wurde nicht müde, ihr Desinteresse an verkopften Kunstdebatten und abgeleiteten Politikansätzen zum Ausdruck zu bringen. »Let it be«, »Don’t worry«, »Do the right thing«. Die documenta offerierte eine Reise durch den »Globalen Süden«, bei der man an beliebigen Stellen Stopp machen konnte, um sich anstoßen, mitnehmen oder erheben zu lassen. Why not?
Dabei wollte man sich nicht durch die Frage durcheinanderbringen lassen, welche Länder und Gesellschaften eigentlich zum »Globalen Süden« gehören. China, das weder kolonialisiert worden ist noch Opfer des Washington Consensus war, sicherlich nicht. Indien, der heute größte Exporteur von digitalen Dienstleistungen weltweit, doch wohl auch nicht. In Laos, das voller Wunder und Rätsel ist, regiert eine kommunistische Einheitspartei und im Kongo gibt es kaum Straßen, dafür viele Waffen und noch mehr Korruption. Der »Globale Süden« wurde von der documenta fifteen als leerer Signifikant gehandelt, in den man offenbar alles Mögliche an Systemkritik, Zivilisationserschöpfung und Kulturpessimismus hineinprojizieren konnte. Die Kritik, dass auf der Ausstellung eine Selbstexotisierung des »Globalen Südens« stattfinde, prallte zumindest an der Mehrheit der Besucher:innen ab. Ruangrupa erschienen als angenehme Animateur:innen, die einem nichts verkaufen und einen zu nichts zwingen wollten.
Wenn es nicht dieses irre Zeichen gegeben hätte.
Wir haben mit unserer Nachforschung diesen Moment der Irritation zum Ausgangspunkt für eine »dichte Beschreibung«10 der documenta fifteen genommen. Wir haben die Frage der Bewertung dieser Ausstellung eingeklammert, um einen freien Blick jenseits von Verteufelung und Beweihräucherung, jenseits von Anklage und Verteidigung zu gewinnen. Es ging uns darum, das Problem herauszuschälen, das dem scharfen Pro und Kontra der Debatte unterliegt. Wir waren auf der Ausstellung unterwegs und haben das Gespräch mit Besucher:innen gesucht, um herauszufinden, wie sie sich mit den Vorwürfen gegen das, was sie gesehen und erlebt hatten, auseinandergesetzt haben. Wir haben Künstler:innen, die auf der Ausstellung vertreten waren, danach gefragt, wie sie sich im Konflikt zwischen der Solidarität mit den vielen beteiligten Gruppen, Initiativen und Personen, die die Ausstellung als ein Produkt von Gemeinschaft ausgemacht haben, und den eigenen Stellungnahmen zu den Vorwürfen von Antisemitismus und dem eigenen Erleben von Rassismus verhalten haben. Wir haben die Rhetorik der Antisemitismusvorwürfe untersucht, so wie sie in der öffentlichen Berichterstattung und in der öffentlichen Debatte über die Ausstellung verwendet wurden. Wir haben uns zudem mit den Reaktionen aus der Stadt beschäftigt. Kassel versteht sich als Gastgeberin der Gäste aus der Kunst, welche die Stadt zu einem Schauplatz der Ausstellung machen. Wir haben aber auch die Rhetorik des Konzepts von ruangrupa unter die Lupe genommen und uns gefragt, woher die Überzeugungskraft rührt und was die Verführung für ein hiesiges Publikum ausmacht. Wir bringen Gruppen aus der Stadtgesellschaft zur Sprache, die zwar vom kuratorischen Team der Ausstellung angesprochen worden waren, sich aber im Moment der Skandalisierung von außen als Spielbälle einer städtischen Elite behandelt fühlten. Wir haben uns außerdem dafür interessiert, wie die Gruppe derer, die die Besucher:innen über diese Ausstellung ganz anderer...