2.Das Deutsche Reich als politisches Konstrukt
Die Ausrufung des Deutschen Kaiserreichs im Spiegelsaal von Versailles im Januar 1871 und die damit einhergehende Gründung eines geeinten Deutschlands war eine Zäsur in der europäischen Geschichte. Als Ergebnis der Einigungskriege und in letzter Konsequenz des Deutsch-Französischen Krieges erblickte ein Staat das Licht der Welt, der in den kommenden Jahrzehnten einen entscheidenden Machtfaktor in Europa darstellen sollte.52 Das noch junge Kaiserreich, an dessen Spitze der preußische König stand, konstituierte sich als föderativer Bundesstaat in der Tradition des Norddeutschen Bundes und erbte somit die grundlegende Funktionsweise des preußisch dominierten Protostaates. Auf den folgenden Seiten werden die maßgeblichen politischen Akteure und Institutionen sowie grundlegenden Entwicklungen innerhalb des politischen Systems in den Blick genommen. Ziel ist es, ein Grundverständnis für die Funktionsweise des Kaiserreichs zu schaffen, um die wesentlichen Entwicklungen der Kriegsjahre verstehen zu können.
2.1Überblick zur Reichsverfassung und -struktur
Fragt man nach wirkmächtigen Traditionen innerhalb der Geschichte Deutschlands53, so ist vor allem die föderative Grundstruktur des politischen Gemeinwesens seit den Tagen des Alten Reiches zu nennen. Diese Form des Regierungs- und Verwaltungshandelns etablierte sich über die Jahrhunderte als politische Normalpraxis, die das Ende des Alten Reiches überdauerte und über den 1815 gegründeten Deutschen Bund und den 1866 etablierten Norddeutschen Bund bis hin zum 1871 ausgerufenen Deutschen Reich die maßgebliche Konstante der politischen Ordnung blieb.54
Infolge der siegreichen Schlacht von Sedan im September 1870 und der Niederlage Frankreichs wurde am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles das Deutsche Kaiserreich ausgerufen. Nur vier Monate später, am 4. Mai 1871, trat die endgültige Reichsverfassung in Kraft.55 Das neugegründete Deutsche Reich bestand aus 22 Fürstenstaaten und drei freien Hansestädten sowie dem Reichsland Elsaß-Lothringen, das allerdings bis zum Ende des Kaiserreiches kein selbstständiger und vollwertiger Bundesstaat werden sollte. Als Vorlage für die Reichsverfassung diente die Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867, wodurch das Reich dessen grundsätzliche politisch-administrative Ausrichtung übernahm. Somit entstand ein Bundesstaat unter preußischer Hegemonie, der sich aus starken Einzelstaaten mit Preußen an der Spitze und einem schwachen Parlament zusammensetzte. Um die dominierende Stellung der Bundesstaaten nicht zu gefährden, nahm Otto von Bismarck (1815-1898) als »Architekt« des Reiches zudem davon Abstand, eine unabhängige und mit vielen Kompetenzen ausgestattete Reichsregierung zu installieren. Auf dieser Entscheidung basierte, wenn auch mit den Jahren abnehmend, das große politische Gewicht der Einzelstaaten.56
2.2Entwicklungen des Regierungssystems 1871 bis 1914
In den ersten Jahren kennzeichnete gerade die schwach ausgeprägte Zentralstaatlichkeit das politische System Deutschlands. In dieser Phase, die Christian Henrich-Franke als Preußisch-hegemonialen Intergovernementalismus57 (1867-1874/75) beschreibt, dominierten die zwischenstaatlichen Züge, denn bundesstaatliche Institutionen mit einem ausreichend großen Verwaltungsapparat und entsprechenden Kompetenzen waren noch nicht etabliert. Dies änderte sich erst mit den Jahren durch den Ausbau des reichseigenen Verwaltungsapparates. Die Keimzelle dieser verwaltungsgeschichtlichen Expansion bildete das Bundeskanzleramt, das unter Führung Rudolf v. Delbrück (1817-1903) schon 1867 gegründet worden war. Es trat von Beginn an als koordinierende Zentralbehörde des Norddeutschen Bundes auf und förderte das Zusammenwachsen auf wirtschaftlicher sowie rechtlicher Ebene.58
Insbesondere in den 1870er-Jahren wurde der Ausbau der Reichsbehörden, der sogenannten Reichsämter, forciert. So gründeten sich bis 1880 die wichtigsten Ämter. Die Einrichtung der verschiedenen Bundesbehörden vollzog sich vorrangig auf informellem Wege durch Beschluss des Kaisers. Dies geschah zumeist, ohne dass der Reichstag oder Bundesrat hierin involviert wurden. Demgemäß war es nicht verwunderlich, dass die Bundesstaaten durchaus argwöhnisch die neuen Reichsämter und ihre Unterbehörden betrachteten. Insbesondere das preußische Staatsministerium versuchte den Ausbau der Zentralbehörden zumindest zu verlangsamen. Ungeachtet dessen gründeten sich verschiedene Institutionen wie das Reichseisenbahnamt (1873), das Reichsjustizamt (1877) und das Reichsschatzamt (1879). Gleichzeitig wurde 1879 das Reichskanzleramts in »Reichsamt des Inneren« (RdI) umbenannt. Das Auswärtige Amt (AA), das aus dem preußischen Außenministerium hervorging, war hingegen bereits vor der Reichsgründung im Januar 1870 zu einer Bundesbehörde erhoben worden. Nach der Gründung des Reichspostamts (1880) wurden bis Ausbruch des Weltkrieges nur noch das Reichsmarineamt (1889) und das Reichskolonialamt (1907) gegründet.
An der Spitze der jeweiligen Reichsämter standen die zuständigen Staatssekretäre, die bis 1878 allein als Zuarbeiter für den Reichskanzler tätig waren. Dies änderte sich mit der Verabschiedung des »Gesetzes betreffend die Stellvertretung des Reichskanzlers« von 1878, das es ihnen erlaubte, auch in Abwesenheit des Kanzlers selbstständig kaiserliche Gesetze anzufertigen und Verordnungen zu erlassen. Der Einfluss der Staatssekretäre nahm infolgedessen signifikant zu. Die Reichsämter, die lange unter einem chronischen Personalmangel litten, arbeiteten Gesetzesentwürfe59 aus, überwachten deren Ausführung und bereiteten kaiserliche Verordnungen vor. Dabei gingen die Ämter auch bei der Ausgestaltung der Zuständigkeiten pragmatisch vor. Kompetenzen wurden hier durch einfache Aneignung erworben, ohne sich auf ein verfassungsmäßiges Recht zu berufen. Dies war gerade durch die vielen Leerstellen innerhalb der Verfassung möglich. Diese Vorgehensweise sollte die gesamte politische Praxis des Deutschen Kaiserreichs – auch im Krieg – durchziehen.60
In den Jahrzehnten nach 1880 differenzierten sich die Ämter immer weiter aus. Mit dem Erschließen neuer Aufgabenfelder expandierte auch der Verwaltungsapparat. Im vorletzten Jahrzehnt des Jahrhunderts weitete sich zudem das Kommissionswesen aus. Den Kommissionen kam gerade deshalb eine zentrale Bedeutung zu, weil sie als Orte des offiziellen und inoffiziellen Austauschs dienten, in denen nicht nur staatliche, sondern auch private Interessen Beachtung fanden. Hier bildete sich eine Art prälegislativer Raum heraus, in dem parlamentarische, bundes- und einzelstaatliche Akteure sowie nicht-staatliche Interessenverbände zusammenkamen, sich austauschten und eine gewünschte politische Praxis – bereits vor dem Eintreten in das offizielle Gesetzgebungsverfahren – vorformulierten. Die Agitationsarbeit politischer Verbände und Zeitungen nahm nicht ohne Grund in dieser Phase zu. Sie wurde mit der Zeit zu einem immer größeren Einflussfaktor. Die Integration ziviler Kräfte, die im Weltkrieg eine wichtige Rolle spielen sollte, war somit bereits Ende des 19. Jahrhunderts ein elementarer Aspekt politischer Arbeit.61
Über die Jahre etablierte sich ein föderales Mehrebenensystem, dessen Komplexität es unmöglich machte, allein von einer zentralen Institution oder Person gelenkt zu werden. Stellvertretend für diese Entwicklung stand der enorme Ausbau der Reichsämter. So hatte sich ihr Personalstand seit den 1880er-Jahren bis in die erste Dekade des 20. Jahrhunderts auf etwa 2.000 MitarbeiterInnen vervierfacht. Mit dem Anwachsen der Komplexität stieg die Bedeutung politischer Netzwerke, die in einem immer größer werdenden Ausmaß das Land durchzogen. In letzter Konsequenz etablierte sich so ein integriertes System des Regierens, das vertikal und horizontal vernetzt war und in dem die Presse sowie diverse Lobbygruppen als »vierte und fünfte Gewalt«62 zu relevanten Akteuren geworden waren.63
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