: Ralf Roth
: Im Morgengrauen der Digitalisierung Die IG Metall und die Zweite Industrialisierung (1950-1970)
: Campus Verlag
: 9783593461069
: 1
: CHF 35.30
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: Zeitgeschichte (1945 bis 1989)
: German
: 446
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
In den 1950er und 1960er Jahren hielten auch in der Bundesrepublik Deutschland die ersten Computer und Roboter Einzug in die Büros und Fabrikhallen. Schon damals stellte sich die Frage, wie sich die Digitalisierung auf die Arbeitswelt auswirken und wie die Gewerkschaften diese Transformation bewältigen würden. Ralf Roth zeigt in diesem Buch detailliert, wie gut vorbereitet die IG Metall am Beginn des digitalen Zeitalters in die Verhandlungen mit den Arbeitgebern über die Folgen der Automation und der mit ihr erwarteten großen Effizienzsteigerung der Arbeit ging und wie sie die Kämpfe um die soziale und wirtschaftliche Teilhabe an den Modernisierungsgewinnen bestritt. Anfangs gestützt auf die Erfahrungen der US-amerikanischen Gewerkschaften, aber auch auf Analysen und Prognosen der noch jungen Arbeits- und Industriesoziologie, gelangen der IG Metall spektakuläre Erfolge, zu denen der Abschluss von »Rationalisierungsschutzabkom en« und die Verkürzung der Arbeitszeit auf eine fünftägige 40-Stunden-Woche gehörten. Mit dem »freien Samstag« gelang sogar nicht weniger als der Einstieg in die Freizeitgesellschaft, verbunden mit einer immensen Stärkung der Kaufkraft durch die Verbilligung zahlreicher Konsumgüter infolge eben der computergetriebenen Effizienzsteigerung der Arbeit.

Ralf Roth ist außerplanmäßiger Professor am Historischen Seminar der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Einleitung: Von der digital getriebenen Transformation der Arbeitswelten im 20. und 21. Jahrhundert


Die Herausforderungen: Künstliche Intelligenz, Fabrik 4.0 und der große Zug zur Digitalisierung


Künstliche Intelligenz, oft kurz »KI«, ist in aller Munde. Davor war es die »Fabrik 4.0« oder auch »Industrie 4.0«. Zu diesem aktuellen Terminus äußert sich die Weltenzyklopädie Wikipedia wie folgt: »Künstliche Intelligenz (KI), auch englischartificial intelligence (AI) ist ein Teilgebiet der Informatik. Es umfasst alle Anstrengungen, deren Ziel es ist, Maschinen ›intelligent‹ zu machen. Dabei wird ›Intelligenz‹ als die Eigenschaft verstanden, die ein Wesen befähigt, angemessen und vorausschauend in seiner Umgebung zu agieren. Dazu gehört die Fähigkeit, Sinneseindrücke wahrzunehmen und darauf zu reagieren, Informationen aufzunehmen, zu verarbeiten und als Wissen zu speichern, Sprache zu verstehen und zu erzeugen, Probleme zu lösen und Ziele zu erreichen.«5 Eine derartige Verwendung des Begriffs »Intelligenz« unterschlägt die große Spannbreite von Begriffen wie »Wesen«, »vorausschauend«, »verstehen«, »Probleme lösen« oder »Ziele formulieren« und zu erreichen. Norbert Wiener hatte diese Vermenschlichung der Maschine noch vermieden und bei der Grundlegung seiner Cybernetics in seiner bahnbrechenden Studie »Control and Communication in the animal and the machine« von 1948 sehr viel prägnanter zum Ausdruck gebracht.6 Die Beschränkung auf Kognition, Berechnung und Sensualismus umschrieb sehr viel besser, was die Computer als Steuerungsmaschinen können und dass sie nicht Probleme lösen, sondern Algorithmen abarbeiten.7 Die gegenwärtige Rede von Maschinenautomaten mit »künstlicher Intelligenz« ist im Gesamtkontext der Diskussion um »KI« in erster Linie eine Verbeugung vor den großen Leistungen der Informatik, die Grenzen des Reiches der Berechenbarkeit sehr stark erweitert zu haben. Daraus entsprangen wiederum Möglichkeiten, die in den Jahrzehnten zuvor lediglich als wünschenswert und »prinzipiell« möglich diskutiert worden sind, aber aufgrund technischer und informationstheoretischer Beschränkungen nicht verwirklicht werden konnten.

Seit der Millenniumswende ziehen Informatiker, Unternehmensmanager, die Spitzen von Arbeitgeberverbänden, Politiker auf allen staatlichen Ebenen, Arbeits- und Industriesoziologen, Politikwissenschaftler sowie Arbeitnehmer und ihre Interessenvertretungen mit unterschiedlichen Intentionen wie in einem Kräfteparallelogramm auf ein Ziel hin, »die für Industrie 4.0 notwendige Automatisierungstechnik […] durch die Einführung von Verfahren der Selbstoptimierung, Selbstkonfiguration, Selbstdiagnose sowie Kognition ›intelligenter‹« zu machen, um »die Menschen bei ihrer zunehmend komplexen Arbeit besser unterstützen bzw. ihnen assistieren« zu können. Es gilt, »das hohe Nutzenpotenzial von Industrie 4.0 zur Produktionszeitverkürzung« zu nutzen.8 Wir befinden uns auf dem Weg, die Potentiale der Digitalisierung für einen großen Umbau des Industriesystems sprunghaft zu erweitern.

Die Konsequenzen daraus hatte Christiane Benner kurz nach ihrer Wahl zur neuen Ersten Vorsitzenden der IG Metall in ihrer ersten Rede am 24. Oktober 2023 auf den Punkt gebracht: »Wir brauchen mehr Mitbestimmung im Betrieb«, und die Beschäftigten müssen »bei strategischen Fragen in den Unternehmen beteiligt werden«. Nicht zuletzt aufgrund der »fortschreitende[n] Digitalisierung in Büros und Werkstätten« seien die Umbrüche in der Arbeitswelt »gewaltig« und es gelte, »diesen Umbau, diese Transformation, zu gestalten. So, dass wir die Grundlagen für unser Leben und für unsere Wirtschaft erhalten.« Sie bekräftigte weiterhin: »Transformation bedeutet keineswegs automatisch den Abbau von Industrie und Arbeitsplätzen. […] Nicht alles bleibt so, wie es heute ist. Arbeitsplätze und Betriebe verändern sich«, aber es entstehen auch neue Arbeitsplätze, und zwar »nicht nur bei den Automobilherstellern selbst, sondern auch in Batteriewerken, in der Kreislaufwirtschaft, beim Recycling oder bei der digitalen Steuerung von Mobilität«. »Transformation bedeutet eben nicht Abbau von Industrie. Sondern es entsteht auch Neues.« Doch dafür benötige »die IG Metall robustere Mitbestimmungsrechte für Beschäftigte«, also eine Anpassung der Gesetze »an die neue Zeit«. Eine »erweiterte Mitbestimmung«, betonte die Erste Vorsitzende, »könne der zunehmenden Unsicherheit und Politikverdrossenheit entgegenwirken. Wer im Betrieb Demokratie wirksam erlebe, der habe auch insgesamt eine positivere Einstellung zur Demokratie […]. Mehr Demokratie im Betrieb führt zu mehr Demokratie in unserer Gesellschaft.«9

Sie knüpft dabei nicht zufällig an Schlussfolgerungen von Otto Brenner an, die dieser auf den Internationalen Arbeitstagungen der IG Metall über Risiken und Chancen der Automation von 1965 in Oberhausen auf der Grundlage der in der Frühzeit der Digitalisierung in den 1950er und 1960er Jahren gewonnenen Erfahrungen zog. Brenner sagte damals: »Die moderne Technik ist eine Herausforderung an unsere gesamte Gesellschaft. Es wird davon abhängen, ob Regierung, Wissenschaft, Unternehmer und Gewerkschaften zum gemeinsamen Handeln zusammenfinden, um die großen Möglichkeiten von Automation und anderen Formen des technischen Fortschritts zu nutzen und die gleichzeitig damit verbundenen Risiken zu vermeiden.«10 Automation bedeutete damals von Computern gesteuerte Produktionsprozesse, also die Anfänge der Fabrik 4.0 im Rahmen der sogenannten Zweiten Industrialisierung. Den Computer und seiner Verbreitung in den folgenden Jahrzehnten begleiteten weitere Schlagworte, die von Automation, Detroit Automation und Mikroprozessoren überComputer Aided Design (CAD),Computer Aided Manufacturing (CAM),Computer Integrated Manufacturing (CIM) bis hin zu Expertensystemen,World Wide Web (WWW), Internet, Web 2.0,Big Data und schließlich zur Industrie (oder Fabrik) 4.0 reichen.11 Zu dem Nonplusultra der neueren Digitalisierung zählen zweifellos die Phänomene, die unter den in die Unternehmen einziehenden Begriffe Künstliche Intelligenz (KI) oderArtificial Intelligence (AI) zusammengefasst werden.

Wir leben im 21. Jahrhundert, und wir leben in einer Welt voller Informationsströme, einer weitgehend digitalisierten globalen Kommunikationsinfrastruktur und einer kaum fassbaren Anzahl digital gesteuerter automatisierter Prozesse in der Produktion, Administration, Logistik, Distribution, Konsumtion und in vielen anderen Bereiche. Das fängt selbst auf der privaten Ebene beim morgendlichen »checken der Feeds« in den sozialen Medien an, setzt sich beim Bezahlen an der Tankstelle auf dem Weg zur Arbeit fort, verfängt sich bei den zahllosen Handlungen im Büro oder in den Werkshallen und bestimmt auch die Aktivitäten in der freien Zeit nach dem Ausklinken aus der Arbeitswelt, also die Teilhabe an Unterhaltung und Bildung, politisches Engagement, Veranstaltungen, Verabredungen, den Chat und die Gespräche mit den Kindern – überall begleiten uns digitale Prozesse. Sie konzentrieren sich in der Arbeitswelt, wälzen sie um bis hin zur »Transformation der Arbeit« – ein Vorgang, den sowohl das Unternehmerlager als auch die Regierung und noch vor beiden die Gewerkschaften beschäftigt.

Die bevorstehende große Transformation der Arbeit, und zwar sowohl in den Bereichen der Produktion wie auch in der Büroarbeit, soll nach neueren Studien bis zu 60 Prozent der Beschäftigten erfassen.12 Sozialwissenschaftliche Untersuchungen wiesen bereits vor einem Jahrzehnt auf die zu erwartenden Folgen hin, die sich in Bereichen vollziehe, an die um die Millenniumswende noch nicht zu denken gewesen war. Doch bereits in den Jahren 2015 und 2016 erschienen grundlegende Studien zur digitalen Entwicklung der Fabrik- und Büroarbeit. In den Ausblicken auf die Zukunft der Büroarbeit beschrieben etwa Bettina Seibold und Sylvia Stieler sehr genau die »Ambivalenz digitaler Techniken« in Bezug auf »Kompetenzen und Qualifizierung«. Es drohe »mit den neuen IT-Tools eine Automatisierung der...