Kapitel 2
Autismus im Alltag – die Kunst, die Löffel beisammenzuhalten
Autismus ist im Alltag einfach anstrengend. Nicht umsonst bezeichnen sich viele Autistinnen als »Spoonies«, in Anlehnung an dieSpoon Theory (Löffel-Theorie),1 die erstmals von Christine Miserandino in einem Blogartikel beschrieben wurde und die eine Metapher für das notwendige Energiemanagement bei unsichtbaren Behinderungen darstellt. In diesem Artikel dient eine Handvoll Löffel als Sinnbild für die täglich verfügbare Menge an Lebensenergie. Für jede alltägliche oder außergewöhnliche Tätigkeit muss man einen oder mehrere Löffel abgeben. Unter Umständen sind dann die Löffel – also die Energie – vor Tagesende aufgebraucht, sodass sehr genau mit ihnen gehaushaltet werden muss. Das trifft die Realität von Menschen mit Behinderungen sehr gut.
Auch Autistinnen sind gezwungen, »ihre Löffel zu zählen«, d. h. ihren Energieverbrauch so sorgfältig zu planen, dass sie damit über den Tag gut auskommen. Jedes unvorhergesehene Ereignis »kostet Löffel« und kann zu einer Überlastung führen.
Autistische Irritation: der unsichtbare Energiefresser
Die meisten Autistinnen empfinden sich selbst als weniger leistungsstark im Vergleich mit ihren neurotypischen Mitmenschen. Tatsächlich leisten sie aber tagtäglich mindestens so viel wie andere, nur mündet ihre Leistung nicht unbedingt in sichtbares Fortkommen.
Einer der wesentlichen und meist unsichtbaren Energiefresser ist die sogenannte autistische Irritation. Alle eingehenden Reize laufen im Gehirn durch einen Filter, der selektiert, ob das, was uns gerade begegnet, im Bereich unserer Komfortzone liegt oder nicht und damit eine Stressantwort erfordert. Dieser Filter ist bei Autistinnen hoch sensibel und schlägt im Laufe eines Tages buchstäblich zigmal Alarm.
Wahrscheinlich sind dir nicht alle diese Stressmeldungen bewusst, denn meist sorgen Autistinnen für Abhilfe, indem sie möglichst schnell eine passende Strategie anwenden, um die Situation zu meistern. Es kommt dann »nur« zu einer vorübergehenden Irritation, z. B. weil man eine Redewendung nicht auf Anhieb versteht und sich erst bewusst machen muss, dass die Aussage bildlich gesprochen und nicht wörtlich gemeint ist.
Eine Patientin äußerte bei der Verabschiedung nach einer Therapiestunde ihr Bedauern darüber, dass wir die Zeit überschritten hatten und sie trotzdem nur für die übliche Zeit bezahlte. Als ich lächelnd »Ist nicht schlimm, das geht aufs Haus« sagte, blickte sie unwillkürlich nach oben in Richtung Dach. Im nächsten Moment bemerkte sie das Missverständnis, was ihr sichtlich peinlich war.
In anderen Fällen kann eine Antwort auf einen außerhalb der Komfortzone liegenden Reiz nicht überspielt werden. Dann kommt es zu einer Reaktion nach dem Muster »kämpfen, fliehen oder tot stellen«. Im »Kampfmodus« wird eine Autistin spontan ärgerlich, ihre Reaktion kann dabei erheblich schärfer ausfallen, als Mitbeteiligte nachvollziehen können. Ein Fluchtreflex kann sich sehr unterschiedlich äußern: still in Form von angespannter Oberschenkelmuskulatur, mit körperlicher Unruhe oder auch mental mit dem dringenden Wunsch, die Situation umgehend zu verlassen. Manche Autistinnen irritieren ihr Umfeld damit, dass sie spontan das Gesprächsthema wechseln und beginnen, über eines ihrer Lieblingsthemen zu sprechen. Sie haben damit sozusagen gedanklich die Flucht ergriffen. In manchen Stresssituationen wird eine Autistin tatsächlich körperlich »die Flucht ergreifen« müssen und die Situation verlassen. Sehr unangenehm fühlt sich für Autistinnen das »Totstellen« an, bei dem ihr Gehirn, vor allem das Sprachzentrum, und zeitweise auch ihr gesamter Körper den Betrieb einzustellen scheinen. Dann stecken sie in einer Blockade fest, aus der sie sich erst befreien können, wenn sich der Stress und der Aufruhr in ihrem Kopf wieder etwas gelegt haben.
Wohlgemerkt kennen auch Nichtautistinnen Stressantworten in überfordernden Situationen, und diese verlaufen genauso wie bei Autistinnen. Der Unterschied besteht in der Häufigkeit und dem Ausmaß des ausgelösten Stresspegels. Man wird wohl kaum jemals neurotypische Menschen innerlich blockiert im Regen an stark befahrenen Kreuzungen stehen sehen, weil der Verkehrslärm und der ungeplant einsetzende Regen sie in dem Moment völlig überfordern.
Zudem kann jede soziale Interaktion solche Irritation hervorrufen und tut es oft genug auch. Gerade autistische Frauen und Mädchen sind Meisterinnen der Tarnung und verstecken ihren Stress und ihre Unsicherheit hinter einer gut erlernten Fassade.
Masking
Der Teil der Kompensation, der für soziale Interaktion aufgewendet wird, wird in der autistischen Community alsMasking (maskieren) oderCamouflaging (tarnen) bezeichnet.Masking wirkt zweifach: Zum einen unterdrückt eine Autistin damit ihre eigentliche autistische Reaktion, z. B. das »Hä?«, wenn sie eine Redewendung nicht versteht, und produziert stattdessen in Echtzeit eine sozial kompatible »gefällige« Reaktion, indem sie z. B. lächelt und nickt.
Bei manchen Autistinnen geht dasMasking so weit, dass sie Mitschülerinnen oder auch Filmfiguren kopieren und auf Fragen mit Filmzitaten antworten, um soziale Interaktionen möglichst »richtig« zu bewältigen.
Jede Kompensationsleistung, sei es dasMasking oder der Umgang mit einer hohen Reizbelastung im Allgemeinen, kostet Energie. Die Tarnung im sozialen Umfeld lässt sich zwar erlernen, aber nie weiter automatisieren als beispielsweise das Autofahren. Stell dir vor, du hättest deine gesamte Schul- und Ausbildungszeit, all die Zeit mit Freundinnen und Familie eigentlich während des Autofahrens gelebt!
Planung und Spontaneität: »Man müsste halt schon mal da gewesen sein«
Autistinnen brauchen eine wie auch immer geartete Vorstellung davon, was sie in der Zukunft erwartet, um sich langsam geistig und körperlich darauf einstellen zu können. Neuland ist in der Regel mit Stress verbunden – selbst dann, wenn eine Unternehmung sehr erwünscht und selbst initiiert ist. Viele Autistinnen berichten, dass eine »Fahrt ins Blaue« sie in Angst versetzt und sie Ausflüge lieber bis ins Detail vorgeplant haben.
Einer 21-jährigen Patientin stand ein Vorstellungsgespräch bevor. Schon Wochen vor dem Termin war sie sehr angespannt. Die Beschreibung der freundlichen Mitarbeiterin am Telefon, die ihr zu erklären versuchte, wie es vor Ort aussieht, wie alt die Person ist, mit der sie sprechen sollte, wie sie aussieht und wie sie »so drauf ist«, half ihr ein wenig. Dennoch sagte sie nach den Schilderungen etwas kläglich: »Man müsste halt schon mal da gewesen sein.«
Autistinnen machen sich also, wenn sie können, ein inneres Bild von dem, was sie in der Zukunft erwartet. Das tun sicher auch viele Nichtautistinnen. Autistinnen verwenden jedoch für ihre inneren Bilder und Pläne etwas, was man als »schnell abbindenden Zement« bezeichnen könnte. Das heißt, dieses Bild entsteht im Kopf und wird sehr schnell hart. Der Realität ist das aber ziemlich egal, und sie richtet sich nicht unbedingt danach. Während nicht autistische Menschen dann flexibel reagieren und ihre Vorstellung an die Gegebenheiten anpassen können, zerfällt das innere Bild einer Autistin zunächst in Scherben. Hierbei entsteht eine unter Umständen große Irritation, die eine entsprechend deutliche Stressreaktion nach sich ziehen kann.
Planänderungen sind für Autistinnen keine bloßen Änderungen, sondern komplette Neuplanungen. Auch wenn sich eine Verabredung nur um eine halbe Stunde verschiebt, kann es passieren, dass eine Autistin gedanklich den gesamten Nachmittag neu für sich planen muss. Wenn es dir genauso geht, dann kennst du es wahrscheinlich gar nicht anders. Aber glaub uns: Das...