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Die Zunge soll mir
am Gaumen kleben
Schließlich fuhren sie doch los.
Die Großeltern hatten ihre wenigen Habseligkeiten in Bricco Marmorito im ländlichen Piemont verkaufen können und kamen am Hafen von Genua an, wo sie, ohne Rückfahrkarte, an Bord derGiulio Cesare gingen.
Sie warteten, bis sich die Passagiere der ersten Klasse eingeschifft hatten und man die der dritten Klasse aufrufen würde, für die sie Fahrkarten hatten. Kaum hatte das Schiff das offene Meer erreicht und die Lichter des Leuchtturms, des altenTorre della Lanterna, waren am Horizont verloschen, wussten sie, dass sie Italien nie wiedersehen würden. Sie mussten ihr Leben auf der anderen Seite der Welt neu beginnen.
Man schrieb den 1. Februar 1929. Es war einer der kältesten Winter, die das Jahrhundert erleben sollte: In Turin zeigte das Thermometer 15 Grad unter null, und in anderen Teilen des Landes fiel es sogar bis auf minus 25 Grad. Federico Fellini nannte dieses Jahr in einem seiner Filme »das Jahr des ewigen Schnees« (L’anno del nevone). Ganz Europa lag unter einem dicken Mantel aus Schnee, vom Ural bis zur Mittelmeerküste. Selbst auf der Kuppel des Petersdoms leuchtete weiß der Schnee.
Als das Schiff nach zwei Wochen Fahrt und Zwischenstopps in Villefranche-sur-Mer, Barcelona, Rio de Janeiro, Santos und Montevideo endlich den Hafen von Buenos Aires erreichte, trug meine Großmutter Rosa trotz der feuchten Wärme von fast 30 Grad immer noch den guten Wintermantel, mit dem sie aufgebrochen war. Wie damals üblich, hatte sie einen Fuchspelz als Kragen angenäht. Und eben da, zwischen Stoff und Leder, hatte sie ihren gesamten Besitz eingenäht, alles, was sie hatten. Und sie trug den Mantel weiter, wie eine Uniform, auch nachdem sie von Bord gegangen waren und an der Mündung des Paraná ein weiteres Schiff bestiegen, das sie noch mal 500 Kilometer tiefer ins Landesinnere trug, zu ihrem eigentlichen Ziel. Erst da entschiedla luchadora, die Kämpferin, wie man sie nannte, dass sie jetzt nicht mehr auf der Hut sein musste.
Am Zielhafen wurden alle drei registriert alsmigrantes ultramar, Migranten von jenseits des Ozeans. Großvater Giovanni, der ursprünglich Bauer gewesen war, es aber dann geschafft hatte, ein Café mit Bäckerei zu eröffnen, wurde alscomercio, Händler, geführt, seine Frau Rosa alscasera, Hausfrau, und ihr Sohn Mario, mein Vater, der zur großen Zufriedenheit seiner Eltern ein Diplom in Buchführung erworben hatte, alscontador, Buchhalter.
Unzählige Menschen hatten zusammen mit ihnen diese lange Reise der Hoffnung unternommen. Millionen und Abermillionen zogen im Laufe eines Jahrhunderts von Italien nachLa Merica, in die Vereinigten Staaten, nach Brasilien und vor allem nach Argentinien. Allein in den vier Jahren vor dem schicksalhaften 1929 wanderten zweihunderttausend Italiener nach Buenos Aires aus.
Die Erinnerung an den schrecklichen Schiffbruch derMafalda war noch frisch, dabei war sie noch nicht einmal das einzige Schiff, das seit Ende des letzten Jahrhunderts von diesem Los ereilt werden sollte. Es waren die Jahre des »Mamma mia, dammi cento lire che in America voglio andar«, wie es in dem tausendfach von Migranten gesungenen Volkslied heißt, das ebenfalls von schiffbrüchigen Auswanderern erzählt. In diesen Jahren war auch die saisonale Völkerwanderung besonders stark. Die Menschen brachen im Herbst von Genua aus auf, kaum dass die Erntesaison in Italien vorüber war. Dann verdingten sie sich als Erntehelfer auf der südlichen Hemisphäre, wo der Sommer erst anfing. Häufig kamen sie erst im Frühjahr wieder nach Hause zurück und hatten ein paar Hundert Lire verdient, die jedoch meist in den Taschen der Organisatoren und Vermittler landeten. Wenn diese bezahlt waren, kam noch das Geld für die Überfahrt hinzu, dann blieben den Leuten nur noch wenige Lire übrig als Lohn für vier oder fünf Monate Schwerstarbeit.
Aber auch der Tod war auf der Überfahrt ein häufiger und wenig willkommener Begleiter. So starben auf derMatteo Bruzzo undCarlo Raggio, die 1888 von Genua nach Brasilien unterwegs waren, fünfzig Passagiere infolge von Hunger und Entbehrungen. Auf derFrisca erstickten mehr als zwanzig Passagiere unter Deck. 1893 mussten die Migranten auf derRemo feststellen, dass doppelt so viele Schiffskarten verkauft worden waren, als das Schiff Passagiere aufnehmen konnte. Bald raffte die Cholera unzählige von ihnen hinweg. Die Toten warf man einfach über Bord. Mit jedem Tag wurde die Zahl der Passagiere geringer. Und bei der Ankunft ließ man das Schiff nicht im Hafen anlegen. Und dann war da noch der Schiffbruch derSirio, bei dem auf dem Weg nach Buenos Aires fünfhundert italienische Migranten ums Leben kamen. In den Volksliedern, die von den Hügeln des Piemont und den Akkordeons im Barrio erschallten, vermischten sich die Tragödien. Aus derSirio wurde dieMafalda und umgekehrt. Neue Worte schmiegten sich in die Klänge der