EINS
Der Tag, an dem sich alles änderte, war erfüllt von stiller Aufregung. Ich lieferte Nicholas in der Grundschule ab, mit einem Lunchpaket, auf das ich ein bisschen stolz war: ordentliche Sandwich-Dreiecke ohne Rinde, dazu Gurkensticks und – unerlaubterweise – eins der Überraschungseier, die er so liebte. Frank fuhr mich zur Arbeit, wie er es mittlerweile morgens immer tat. Ich wurde im stolzen Alter von dreiundvierzig Jahren unerwartet zum zweiten Mal Mutter, und es kam mir vor, als trüge ich einen Ozean mit mir herum, auf dem der Mensch, der ich einmal gewesen war, wie ein schaukelndes Schiffswrack an der Oberfläche trieb. Am Schultor half mir Frank beim Aussteigen und umarmte mich vorsichtig.
»Ruf mich an, falls du irgendetwas brauchst, dann komm ich stante pede vorbei und bringe es dir«, sagte er.
»Sogar Essiggurken?«, fragte ich, eine Anspielung auf meine Gelüste während der Schwangerschaft mit Nicholas.
»Sogar Essiggurken. Ich füttere dich damit im Lehrerzimmer.«
»Das wird für große Erheiterung sorgen.«
Ehe er zurücksetzte, schenkte er mir ein strahlendes Lächeln, und ich hatte meinem aktuellen Umfang zum Trotz das Gefühl, dem Tag entgegenzuschweben. Diesmal passte einfach rundum alles.
Zwischen mir und dem Flügel, in dem mein Biologiesaal untergebracht war, ragte der Haustechnikblock auf, ein hoher Betonklotz auf Stelzen im brutalistischen Stil. In den feuchten Nischen darunter versammelten sich die Loser, Sprayer und Skateboarder zum Rauchen, Grapschen und Prügeln. Ich spähte im Vorbeiwatscheln in das Halbdunkel zwischen den Säulen auf der Suche nach vertrauten Gesichtern. Es war noch früh und kalt, deshalb war wenig los – nur ein paar Kids, die vor dem mit Graffiti überzogenen Hintergrund die erste Zigarette des Tages rauchten.
Sindi, Spraydose in der einen Hand, Kippe in der anderen, nickte mir über die Schulter hinweg zu und betrachtete dann nachdenklich einen winzigen Fleck noch unbesprühter Wand. Sie hatte den Rockbund mehrfach umgekrempelt, ihre nackten Beine leuchteten wie Stalagmiten. Dwayne raste auf seinem Skateboard so knapp an mir vorbei, dass ich fast das Gleichgewicht verloren hätte. »Sorry, Miss!« Er flitzte zwischen den Säulen hindurch, sprang vom Board und klemmte es sich unter den Arm, ehe er mit seinen Kumpels in einer Ecke verschwand.
Ich winkte und schlurfte weiter.
Horizon Heights war nicht jedermanns Sache, aber ich hatte hier wider Erwarten meine Nische gefunden. Die Kinder an dieser Schule waren Überlebenskünstler, Außenseiter, komische Vögel, und ich fühlte mich zu ihnen hingezogen. Vor langer Zeit hatte ich in Preston, unweit von Fleetwood, wo ich aufgewachsen war, eine akademische Ausbildung zur Biologielehrerin absolviert, weil ich mein nerdiges Interesse an der Natur unbedingt mit anderen hatte teilen wollen. Doch nach dem Tod meines Vaters hatte meine Mutter darauf bestanden, dass ich in ihrer Nähe blieb, und ich hatte förmlich sehen können, wie mein Leben zusammenschrumpfte, noch ehe es richtig begonnen hatte. Also hatte ich schleunigst das Weite gesucht und auf Lanzarote einen Segelkurs gemacht, um noch weiter weg zu kommen, und damit war die anvisierte Laufbahn als Lehrerin vergessen. Ich hatte Frank kennengelernt und mich in ihn verliebt, so heftig, dass ich selbst dann noch das Gefühl hatte, frei zu sein, als sich mit der Zeit herauskristallisierte, dass ein Leben mit ihm bedeutete, der See den Rücken zu kehren, ein Kind zu bekommen, Verantwortung zu übernehmen. Wir waren ja auch nach London gezogen, in eine der größten Städte der Welt.
Als Nicholas kein Baby mehr gewesen war und ich es nicht mehr ausgehalten hatte, den ganzen Tag zu Hause zu hocken, hatte ich mich auf meinen ursprünglichen Plan besonnen, und die Zuständigen an der Horizon Heights hatten dankenswerterweise Gefallen an mir gefunden.
Es war eine Problemschule, genau wie die, die ich selbst besucht hatte. Ich lebte nun zwar in der Hauptstadt, aber ich kannte diese Art von Kids, und sie schienen mich ebenfalls zu kennen. Wir begegneten einander mit einem gewissen Vertrauensvorschuss.<