: Polly Clark
: Ocean - Gefangen im Blau Ein packender Abenteuerroman über die Zerbrechlichkeit einer Familie und die Wucht der Natur »Zutiefst faszinierend.« Mareike Fallwickl über Polly Clarks Roman Tiger
: Eisele eBooks
: 9783961612628
: 1
: CHF 13.50
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: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 336
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein fesselnder Pageturner mit Schauplatz hoher See Was dich nicht umbringt, macht dich stärker - so heißt es zumindest. Doch Helen scheint an einem schrecklichen Erlebnis fast zu zerbrechen. Da schlägt ihr Mann einen gemeinsamen Segeltörn vor - ein Abenteuer, das sie von dem Erlebten ablenken soll. Doch auf hoher See haben sie dann mit ganz unerwarteten Gefahren zu kämpfen ... In ihrer Jugend haben sich Helen und Frank an Bord der Innisfree kennengelernt und ineinander verliebt. Jahre später sticht das Ehepaar mit Sohn Nicholas und Pflegetochter Sindi erneut in See, in der Hoffnung, dass ein Segeltörn über den Atlantik ihre fragile Familie wieder zusammenbringt. Denn Helen ist nicht mehr dieselbe, seit eine Tragödie ihr ein unverstellbares Opfer abverlangt hat und sie beinahe das Leben gekostet hätte - wäre sie nicht von einem Fremden gerettet worden, den sie nicht mehr aus ihren Gedanken kriegt. Helens Obsession und die Geheimnisse innerhalb der Familie machen den Törn zunehmend zu einem Albtraum - bis auch der Ozean sich gegen sie wendet und es plötzlich kein Entkommen mehr zu geben scheint ... Ein ebenso mitreißendes wie brillant geschriebenes Drama, in dem eine Frau mit den überwältigenden Kräften der Natur und des Herzens konfrontiert wird. 'Eindringlich und poetisch... spricht jede Frau an, die jemals geliebt hat und Angst hatte, zu verlieren.' - Jane Campbell, Autorin von Kleine Kratzer

Polly Clark wurde in Toronto geboren und lebt abwechselnd an der schottischen Westküste und auf einem Hausboot in London. Ihre Lyrik wurde mit bedeutenden Preisen ausgezeichnet, und ihr erster Roman Larchfield, für den sie den MsLexia Prize gewann, u.a. von Margaret Atwood, John Boyne und Richard Ford hochgelobt. Während ihrer Arbeit als Wärterin im Edinburgher Zoo begann sie sich für den vom Aussterben bedrohten Sibirischen Tiger zu interessieren. Für die Recherchen an Tiger reiste sie in die russische Taiga, wo sie im tiefsten Winter bei Temperaturen von -35°C lernte, wie man die Spur eines Tigers verfolgt. Tiger stand 2019 auf der Shortlist für den Scottish National Book Award.

EINS


Der Tag, an dem sich alles änderte, war erfüllt von stiller Aufregung. Ich lieferte Nicholas in der Grundschule ab, mit einem Lunchpaket, auf das ich ein bisschen stolz war: ordentliche Sandwich-Dreiecke ohne Rinde, dazu Gurkensticks und – unerlaubterweise – eins der Überraschungseier, die er so liebte. Frank fuhr mich zur Arbeit, wie er es mittlerweile morgens immer tat. Ich wurde im stolzen Alter von dreiundvierzig Jahren unerwartet zum zweiten Mal Mutter, und es kam mir vor, als trüge ich einen Ozean mit mir herum, auf dem der Mensch, der ich einmal gewesen war, wie ein schaukelndes Schiffswrack an der Oberfläche trieb. Am Schultor half mir Frank beim Aussteigen und umarmte mich vorsichtig.

»Ruf mich an, falls du irgendetwas brauchst, dann komm ich stante pede vorbei und bringe es dir«, sagte er.

»Sogar Essiggurken?«, fragte ich, eine Anspielung auf meine Gelüste während der Schwangerschaft mit Nicholas.

»Sogar Essiggurken. Ich füttere dich damit im Lehrerzimmer.«

»Das wird für große Erheiterung sorgen.«

Ehe er zurücksetzte, schenkte er mir ein strahlendes Lächeln, und ich hatte meinem aktuellen Umfang zum Trotz das Gefühl, dem Tag entgegenzuschweben. Diesmal passte einfach rundum alles.

Zwischen mir und dem Flügel, in dem mein Biologiesaal untergebracht war, ragte der Haustechnikblock auf, ein hoher Betonklotz auf Stelzen im brutalistischen Stil. In den feuchten Nischen darunter versammelten sich die Loser, Sprayer und Skateboarder zum Rauchen, Grapschen und Prügeln. Ich spähte im Vorbeiwatscheln in das Halbdunkel zwischen den Säulen auf der Suche nach vertrauten Gesichtern. Es war noch früh und kalt, deshalb war wenig los – nur ein paar Kids, die vor dem mit Graffiti überzogenen Hintergrund die erste Zigarette des Tages rauchten.

Sindi, Spraydose in der einen Hand, Kippe in der anderen, nickte mir über die Schulter hinweg zu und betrachtete dann nachdenklich einen winzigen Fleck noch unbesprühter Wand. Sie hatte den Rockbund mehrfach umgekrempelt, ihre nackten Beine leuchteten wie Stalagmiten. Dwayne raste auf seinem Skateboard so knapp an mir vorbei, dass ich fast das Gleichgewicht verloren hätte. »Sorry, Miss!« Er flitzte zwischen den Säulen hindurch, sprang vom Board und klemmte es sich unter den Arm, ehe er mit seinen Kumpels in einer Ecke verschwand.

Ich winkte und schlurfte weiter.

Horizon Heights war nicht jedermanns Sache, aber ich hatte hier wider Erwarten meine Nische gefunden. Die Kinder an dieser Schule waren Überlebenskünstler, Außenseiter, komische Vögel, und ich fühlte mich zu ihnen hingezogen. Vor langer Zeit hatte ich in Preston, unweit von Fleetwood, wo ich aufgewachsen war, eine akademische Ausbildung zur Biologielehrerin absolviert, weil ich mein nerdiges Interesse an der Natur unbedingt mit anderen hatte teilen wollen. Doch nach dem Tod meines Vaters hatte meine Mutter darauf bestanden, dass ich in ihrer Nähe blieb, und ich hatte förmlich sehen können, wie mein Leben zusammenschrumpfte, noch ehe es richtig begonnen hatte. Also hatte ich schleunigst das Weite gesucht und auf Lanzarote einen Segelkurs gemacht, um noch weiter weg zu kommen, und damit war die anvisierte Laufbahn als Lehrerin vergessen. Ich hatte Frank kennengelernt und mich in ihn verliebt, so heftig, dass ich selbst dann noch das Gefühl hatte, frei zu sein, als sich mit der Zeit herauskristallisierte, dass ein Leben mit ihm bedeutete, der See den Rücken zu kehren, ein Kind zu bekommen, Verantwortung zu übernehmen. Wir waren ja auch nach London gezogen, in eine der größten Städte der Welt.

Als Nicholas kein Baby mehr gewesen war und ich es nicht mehr ausgehalten hatte, den ganzen Tag zu Hause zu hocken, hatte ich mich auf meinen ursprünglichen Plan besonnen, und die Zuständigen an der Horizon Heights hatten dankenswerterweise Gefallen an mir gefunden.

Es war eine Problemschule, genau wie die, die ich selbst besucht hatte. Ich lebte nun zwar in der Hauptstadt, aber ich kannte diese Art von Kids, und sie schienen mich ebenfalls zu kennen. Wir begegneten einander mit einem gewissen Vertrauensvorschuss.<