Gina
Rom
Jemand rüttelte mich an der Schulter.
»Wach auf, Gina! Du hast einen Albtraum!«
Ich fuhr hoch. Mein Herz raste und für einen Augenblick wusste ich nicht, wo ich war. Alles um mich herum erschien mir fremd und bedrohlich. Noch immer erfüllte mich eine schreckliche Leere, das Gefühl zu fallen, tiefer und tiefer, während mir die Lunge zusammengepresst wurde. Ich wusste, dass ich nicht panisch werden durfte und gegen die schwarze Atemlosigkeit ankämpfen musste. Nur langsam fand ich mich wieder in der Gegenwart zurecht. Dabei blieb mein Blick auf dem besorgten Gesicht des jungen Mannes haften, der mich geweckt hatte. War das Pieter? Nein, Pieter war gestern gewesen, meinte ich. Ich durchforstete mein Gedächtnis nach dem Namen. Nicht Pieter. Sven?
Gerade standen meine skandinavischen Wochen an und ich vögelte mich durch eine Gruppe frischer Studenten aus Schweden. Das Sommersemester hatte im Vormonat begonnen und die Auswahl war entsprechend üppig. Ich blinzelte. Sven – falls es Sven war –, sah mich fragend an. Der Schatten des Albtraums lastete weiter auf mir und seine Nachwirkungen machten mir zu schaffen. Ich brauchte Ablenkung und griff entschlossen unter die Decke. Mein Partner war jung und es war früher Morgen. Er enttäuschte mich nicht. Ich packte fest zu und hangelte mich an seiner Morgenlatte zurück in die Realität. Sven stöhnte laut, aber bevor er sich auf mich rollen konnte, hatte ich mich schon rittlings auf ihn geschwungen. Ich war gern die Dominante und hatte die Dinge unter Kontrolle. Im Anschluss an das eher kurze Vergnügen zog ich mich in Windeseile an und verschwand ohne ein Wort. So, wie ich es immer tat.
Unten auf dem Gehsteig hatte ich die Wahl zwischen der nahen Bushaltestelle und einem flotten Spaziergang. Ich entschied mich für letzteres. Svens Studenten-WG lag mitten im Centro Storico nahe des Pantheons und der zwanzigminütige Trip zu Fuß durch Rom bis nach Hause würde mir den Kopf freipusten. Ich empfand die Stadt wie ein lebendiges Wesen, das mich vom ersten Tag an in seine Arme geschlossen hatte. Keine Beschreibung könnte der Faszination der ewigen Stadt jemals gerecht werden, man muss sie selbst erleben. Für mich verkörperte sie das Ewige, während alles andere nur das Vorübergehende war. Ich liebte Rom besonders am Morgen, wenn die Stadt kurz Atem holte, der Verkehr noch floss und die Touristen noch schliefen, wenn die Kellner Stühle und Tische auf den Bürgersteig rückten, es allerorten nach frischgemahlenen Kaffeebohnen und Cornetti aus den zahllosen Bars duftete, in die es die Römer mehrfach am Tag trieb, um einen raschen Caffè zu schlürfen.
Daheim in meiner Zweier-WG unweit Roms Hauptbahnhof Stazione Termini nahm ich eine schnelle Dusche, schlüpfte in Jeans und T-Shirt, ohne dabei die Uhr aus dem Auge zu verlieren. Wie üblich war ich verdammt spät dran. Auf der Suche nach meinem zweiten Sneaker turnte ich durch das Zimmer, dessen Zustand sowohl meinen schmalen Geldbeutel als auch meinen wenig ausgeprägten Sinn für Ordnung widerspiegelte. Die Vorlesung von Professor Fortunato wollte ich heute auf keinen Fall versäumen, zumal er eine besondere Vorführung im großen Hörsaal angekündigt hatte.
Ich studierte im dritten Jahr Informatik mit Studienschwerpunkt Bioinformatik und App-Entwicklung an der römischen Uni Sapienza. Auch wenn ich ein wenig über die Stränge schlug, mein Studium blieb mir das Wichtigste.
Ich bändigte meine noch feuchten dunklen Haare mit einem einfachen Gummi, schnappte mir meine Jacke und meinen knallroten Helm und fegte die Treppe hinab. Beinahe hätte ich den alten Herrn im Erdgeschoss, der bei uns im Haus Methusalix hieß, umgerannt, rief ihm einScusi zu, erhielt ein knorrigesquesta ragazza! zurück, erreichte den Bürgersteig, hetzte um die Ecke und schob die Garage auf, die ich mir mit meinen Nachbarn teilte. Ich schwang mich auf meine betagte Vespa und gab nichts auf das unheilvolle Scheppern beim Anlassen, sie klang nie anders u