Eine Kaltfront
Berlin, 2005
Ein eisiger Wind fegt durch die Bleibtreustraße, vorbei an den Antiquitätenläden, den Cafés und den Secondhand-Boutiquen. Er wirbelt kleine braune Blätter vor den herrschaftlichen Jugendstil-Fassaden empor, er hebt die Mäntel der Passanten, die geduckt an den Häusern vorüberhasten. Der Himmel hängt schwer und grau über den Dächern. Am Ende der breiten, kopfsteingepflasterten Allee rattert die S-Bahn zwischen den Fensterfronten im ersten Stock.
Es ist Ende März. In den letzten Wochen gab es ein paar mildere, sonnige Tage. Die Bäume trieben bereits zarte Knospen, auf den Verkehrsinseln kämpften sich die ersten Krokusse durch die harte Erde, sodass alle schon auf einen baldigen Frühling hofften. Doch direkt nach Ostern schob sich erneut eine unerbittliche Kaltfront aus östlicher Richtung heran und legte sich wie eine frostige Glocke über die Stadt.
Nona eilt die Straße entlang, sie zieht sich den Schal enger um den Kopf und biegt dann in den Eingang eines frischgestrichenen weißen Hauses. Vor der Tür steht eine junge Frau, sie inspiziert die geschwungenen Schriftzüge auf den Messingschildern. Mutter und Tochter umarmen sich kurz.
»Wann ist es passiert?«, fragt Alexa, während sie klingelt.
»Heute Vormittag, glaube ich. Woher weißt du …?«
»Ira hat mir eineSMS geschickt.« Alexa hält ihr Handy hoch.Konrad ist gestorben. Kommt zum Tee, steht im Display. Nona schnaubt verächtlich.
Der Türöffner summt.
Nona und Alexa steigen langsam die dunkle Mahagoni-Treppe hinauf. Es riecht nach frischer Farbe. Das Treppenhaus ist gerade saniert worden, hier und da hängen noch Klebestreifen und Plastikplanen an der Holzvertäfelung, darüber leuchtet es hellbeige. Neue, auf antik gemachte Jugendstil-Lampen hängen von der Decke, sie tauchen alles in gedämpftes, edles Licht.
Die Wohnungstür im zweiten Stock ist angelehnt, sie treten leise ein. Iras Stimme schallt durch den Flur, sie ist hinten in der Küche, sie telefoniert.
»Ja,KOLBERG. GräfinKOLBERG. Richten Sie ihr bitte aus …«
Nona zieht die Tür vorsichtig hinter sich zu, sie schleichen ins Wohnzimmer – zwei herrschaftliche Salons in kräftigem Gelb, die durch eine Flügeltür miteinander verbunden sind. Stuck an der Decke, Stiche an der Wand. Eichenparkett. Ira hat das silberne Teeservice auf den Tisch zwischen den Biedermeier-Sofas gestellt, neben Silberputzmittel und einen schwarz verschmierten Lappen. Quer über dem großen Perserteppich liegt ein Staubsauger, anscheinend erwartet sie die Putzfrau. Die beiden Fenster, die zur Straße hinausgehen, sind geöffnet, die Vorhänge bauschen sich im Wind.
Iras Stimme dringt aus der Küche.
»Sie sollHEUTE kommen,HEUTE. NichtMORGEN. Sofort. Kommen.«
Nona und Alexa stehen etwas unschlüssig herum.
Nona räuspert sich und schält sich langsam aus Mantel und Tüchern.
Ira eilt mit energischen, lauten Schritten über das Parkett. Sie ist groß, blond und braun gebrannt, mit der drahtigen Figur einer lebenslangen Reiterin. Ihre Haare wippen in einem hohen Pferdeschwanz hinter ihr her, sie trägt Jeans und ein weißes Polohemd. Obwohl sie Ende fünfzig ist, hat sie etwas Mädchenhaftes. Sie zwinkert stark mit den Augen – es ist einer ihrer Ticks, der sich mit der Zeit immer stärker ausgeprägt hat.
»Entschuldigt, ihr beiden Süßen! Das Telefon geht unentwegt, und Jadwiga ist heute noch nicht gekommen. Ich muss noch so viel organisieren. Wie geht es euch, was kann ich euch denn anbieten, Kaffee, Tee?«
Der Tod ihres Mannes scheint Iras ei