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Die späte Septembersonne erfüllte die fahlen, regelmäßigen Straßen zwischen Portland Place und Manchester Square. Der Himmel war ein loderndes Blau, die unbewegte Luft trotzdem kühl. Ein goldener Kastanienfächer segelte von einem Baum herab und landete sachte auf dem Trottoir. In dem kleinen Antiquitätenladen schoss ein kräftiger Sonnenstrahl, getrübt von wirbelndem Goldstaub, in die Sammlung roter Lack- und Perlmuttstücke, Ormolu und Maroquin. Imogen Gresham hielt einen Becher in den bloßen Händen, er war reines Himmelblau, verziert mit einem Muster aus gegeneinander versetzten Weizenähren, wie man ihn in ländlichen Regionen als »Harvester« kennt. Ihre Augen sogen die Farbe auf, ihre Finger die Prägung der Ähren. Ihr Mann dagegen sah, dass der Becher unten angeschlagen war und dass von dieser Stelle an der Innenseite Risse wie Flüsse auf einer Landkarte aufwärts mäanderten.
»Den willst du doch nicht etwa?«, rief er. »Der zerbricht dir doch im Nu.« Abrupt wandte er sich zum Fenster, durch das er seinen Wagen am Bordstein sehen konnte. Imogen stellte den Becher mit gesenktem Blick stumm wieder hin. Sie konnte kaum aufschauen. Sonst gab es in dem Laden nichts für einen annehmbaren Preis, was sie hätte haben mögen. Sie war hergekommen, weil jemand, dem der Besitzer am Herzen lag, sie darum gebeten hatte, und hatte gehofft, ihr Mann würde etwas sehen, das man kaufen konnte, doch es war kein guter Tag. Evelyn Gresham war nicht in Muße oder Kauflaune, und wenngleich er alles bezahlen würde, was sie auswählte, war sie außerstande, etwas Teures zu nehmen, das sie nicht wollte, oder etwas Billigeres, das ihm, wie er gesagt hatte, nicht gefiel. Sie selbst konnte nichts kaufen, da sie sich mitten in einer Periode erzwungener Sparsamkeit befand. Obwohl ihr Mann, den Rücken ihr zugewandt, stur auf die Straße blickte, war sein Einfluss so stark, dass er ihren Wunsch bezwang, den Ladenbesitzer zu unterstützen, der, gut gekleidet, aber alt und abgehärmt, mit seinem starren, versöhnlich verzweifelten Lächeln zeigte, dass er um seinen Ruin wusste, der wie ein Schatten an ihn herankroch. Die Situation war für sie so schmerzlich, dass es ihr eine tiefe Röte ins Gesicht trieb. Paul Nugent, der neben ihr stand, wusste es und auch, dass er nichts für sie tun konnte. Er kannte Evelyn Gresham genau, denn sie waren Freunde seit der Schulzeit.
Wieder schaute Imogen auf den Rücken ihres Mannes. »Na gut«, sagte sie leise. Sogleich drehte er sich erleichtert um und nahm Hut und Handschuhe. »Leider sehen wir heute nichts Geeignetes«, sagte er. Der Ladenbesitzer war zu gut erzogen, um ihnen etwas anderes aufzudrängen. Er geleitete sie zur Tür und öffnete sie mit einer leichten Verbeugung. Ohne den Blick vom Boden zu nehmen, folgte Imogen ihrem Mann zum Wagen.
»Können wir dich irgendwo absetzen?«, fragte er Paul Nugent.
»Nein, danke.« Evelyn ging zur anderen Tür herum, während der Chauffeur die nähere für Imogen öffnete. Als sie stehen blieb, um sich von Paul zu verabschieden, erscholl eine gebieterische Stimme:
»Daddy! Ich will, dassdu neben mir sitzt.«
»Ist gut, mein Junge. Ich steige gleich ein.«
»Gavin?«, sagte Paul Nugent. Er hätte den Kopf in den Wagen gesteckt, nachdem Imogen Platz genommen hätte, doch Evelyn Gresham zeigte seine Ungeduld, indem er zu dem Chauffeur sagte: »Was meinen Sie, schaffen wir’s in anderthalb Stunden?«
»Ich glaube schon, Sir, falls es keine Unfälle gibt.«
Imogen lächelte Paul Nugent durch die Scheibe zu. Die ungewöhnliche Farbe ihrer Wangen ließ ihre grauen Augen erglänzen, oder brannten sie von Tränen? Unvermittelt schoss der Wagen los. Als er nicht mehr zu sehen war, kehrte Paul in das Geschäft zurück und bat darum, den blauen Harvester noch einmal zu sehen. Er drehte ihn vorsichtig in den Händen, und während er ihn bezahlte, sagte er bei sich, dass Evelyn Gresham zu Recht gemeint hatte, er sei das Geld nicht wert.
Da die Greshams in Berkshire lediglich der Nachmittagstee erwartete, schien ein derart überstürzter Aufbruch unnötig, doch aufgrund von Evelyn Greshams makellosem Zeitgefühl war Pünktlichkeit für ihn etwas Natürliches, und das gehetzte Leben als erfolgreicher Kronanwalt erforderte diese nicht nur im Beruf, sondern ebenso, damit er seine sehr knapp bemessene Freizeit auch wirklich nutzen konnte. Er grollte heftig über den Verlust der halben Stunde Entspannung nach dem Mittagessen, wenn es verspätet auf den Tisch kam, oder über die Verkürzung eines Landspaziergangs, wenn ein Arbeiter nicht zur verabredeten Zeit für Anweisungen erschien.
Imogen lehnte sich in ihre Ecke zurück und schaute über den Kopf ihres Sohnes hinweg auf ihren Mann. Bei der ersten Gelegenheit, um ein Hochzeits- oder Geburtstagsgeschenk zu kaufen, würde sie wieder in den Laden gehen. Da sie momentan nichts tun konnte, um die Lage zu verbessern, versuchte sie, nicht mehr daran zu denken.
Gavin hatte, nachdem er eine Weile herumgezappelt und seine Eltern gegen das Schienbein getreten hatte, ein kleines Reiseschachspiel hervorgeholt, dessen winzige weiße und karminrote Figuren in Löcher gesteckt wurden, damit sie nicht von den Feldern rutschten. Sein Vater hatte ihm die Züge beigebracht, und nun wollte er bei jeder Gelegenheit spielen. Für einen noch nicht ganz Elfjährigen hatte er das Spiel, wie seine Mutter fand, sehr schnell gelernt, doch als Gavin das einmal mitgehört hatte, hatte er gesagt: »Das meinst du bloß, weildu es nicht kannst.« Diese schlagfertige Schroffheit hinterließ einen unangenehmen Eindruck, doch war daran nur schwerlich etwas auszusetzen, erstens, weil das, was er sagte, fast immer stimmte, und zweitens, weil er damit nie oder nur selten eine böse Absicht zu verfolgen schien.
Tatsächlich hatte Gavin einen Großteil seiner Eigenschaften und Wesenszüge direkt von seinem Vater geerbt, aber was sie an Evelyn, der zweiundfünfzig war und damit fünfzehn Jahre älter als sie, akzeptierte und gar bewunderte, ließ sie sich nicht ohne Weiteres von Gavin gefallen.
Gavins dunkler Kopf, über das Brett auf den väterlichen Knien gebeugt, wurde in seiner ekstatischen Konzentration beinahe gegen Evelyns Weste gedrückt. Sein Vater schaute auf ihn hinab. Robust, blass, schwarzhaarig, grauäugig, war Evelyns Haupt zu männlich, um schön genannt zu werden, dennoch war es das: Die feine, jedoch kurze Adlernase war die einzige Unregelmäßigkeit. Das Gesicht war ein volles Oval, doch wirkten die Züge wie mit extremer Schärfe geschnitten. Es gibt ein Leben in Stein, und ein solches schienen seine Lippen, wenn in Ruhe, zu besitzen.
Er war alles, was Imogen bewunderte; er besaß nicht nur sämtliche Eigenschaften, die sie instinktiv an einem Mann suchte, der die Lenkung ihres Lebens übernehmen sollte, er besaß sie sogar in ungewöhnlichem Maße. Als sie ihn mit siebenundzwanzig kennenlernte, war er einundvierzig und sah sogar noch besser aus als jetzt, wenn auch weniger interessant. Damals war sie von seiner Erscheinung fasziniert gewesen, dann von seiner attraktiven Persönlichkeit gefesselt und schließlich von seinem Verlangen nach ihr entzückt, doch so ganz hatte sie seinetwegen nie den Kopf verloren: vielleicht gehemmt davon, dass er das gar nicht wollte. Vielmehr wollte er Sympathie, Nützlichkeit, vollkommene Hingabe, aber keine Schwärmerei. Stets hatte sie sich am schwelenden Rand einer Feuersbrunst empfunden, die nie ganz ausbrach. Gelegentlich fand sie, dass ihr dadurch etwas entging, aber im Großen und Ganzen war sie äußerst glücklich. Jene Eigenheiten ihres Mannes, deretwegen ihn manche schwierig oder gar unangenehm fanden: ungeduldige Kritik, kompromisslose Meinungen, eine unbewusste Strenge, berührten sie nicht schmerzlicher als ein kräftiger Druck auf einen blauen Fleck.
Sie erreichten ihr Dorf in Berkshire, als die Uhr in einem Türmchen, das eine hohe, von einer Kastanie überschattete Backsteinmauer überragte, gerade Viertel nach vier schlug. Die Luft war weiterhin unnatürlich klar, doch wo das Licht von Fensterscheiben oder Teichen zurückgeworfen wurde, war es nun ein schimmerndes Rotgold. Ihr Haus stand in einem rechten Winkel zum Fluss, ein kleines Rechteck, dessen hohe, schmale Fenster, die oberen Scheiben gemäß der Neugotik der Regency spitz zulaufend, auf ein flaches Bleidach schauten, worunter drei ähnlich gestaltete Terrassentüren auf eine Veranda ...