KAPITEL 1
Eine Leiche am Haken
»Den mach ich fertig!«, knurrte Kartoffel-Paul.
Verbissen hielt er die Angelrute umklammert und stand auf, um seine Macht über sie zu verbessern. Dabei gerieten das Boot und er ganz schön ins Schwanken.
»Na warte, du«, sagte er. »Mir entkommst du nicht, verstanden?«
Abermals zog er an der Rute. Oder die Rute an ihm? Pauls Oberkörper beugte sich vor, seine Augen wurden groß – und die Schnur, die von der Spitze der Angel aus ins dunkle Wasser ging, wurde schlaff.
»Nanu?«, murmelte Paul.
»Lass mich raten.« Nele Blum hatte Mühe, sich ein Grinsen zu verkneifen. »Er ist dir entkommen?«
»Das …« Paul legte die Stirn in Falten, zog das Angelseil ein. »Das ist unmöglich. Daskann gar nicht sein.«
Doch es war. Paul hatte die Angel kaum eingeholt, da sahen sie es schon: Der Köder hing nicht länger am Haken. Irgendjemand hatte sich an ihm gütlich getan, ohne dabei hängen zu bleiben.
»Du hättest mir gleich sagen können, dass wir Fische füttern gehen.« Neles Spott war freundschaftlich gemeint und klang auch so. »Dann wäre ich noch viel lieber mit dir gekommen als ohnehin.«
Paul sah vom Angelhaken zu ihr. Dann musste auch er lachen.
Es war früh am Tag, noch keine fünf Uhr morgens. Über dem breiten See, der an die Kleingartenanlage Hortensia grenzte, dämmerte der Sonnenaufgang. Doch in den Wäldern auf der anderen Uferseite hingen noch immer die Schatten der Nacht, und auf dem Wasser tanzten letzte Nebelschwaden, als wollten sie dem kleinen Ruderboot Gesellschaft leisten.
Nele schlug den Kragen ihrer dünnen Jacke hoch und schlang die Arme um den fröstelnden Oberkörper. Echt erstaunlich, wie kalt es im Sommer sein konnte, wenn man den Tag früh begann! Nachher kletterten die Temperaturen bestimmt wieder auf sechs-, vielleicht siebenundzwanzig Grad im Schatten. Doch zu dieser frühen Stunde fühlte sich die Einunddreißigjährige weit eher, als hätte sie wochenlang geschlafen und wäre kurzerhand im Herbst aufgewacht. Oder im Winter. Brr, war das frisch!
»Na, dann«, murmelte Kartoffel-Paul. Er griff in das Kästchen mit den Ködern und befestigte einen neuen am Angelhaken. »Versuchen wir das noch mal. Irgendwann muss doch einer anbeißen.«
Der Angelausflug war Pauls Idee gewesen. Der Siebzigjährige mit dem silbergrauen Haar und der Brille zählte zu den engagiertesten und alteingesessenen Mitgliedern des Kleingartenvereins. Außerdem feierte er heute am Abend seinen Geburtstag. Zu diesem Anlass hatte Paul – sein Nachname war Nele nicht bekannt und, wie sie insgeheim vermutete, auch den übrigen »Hortensianern« nicht – seine Gartenfreunde zu einem großen Fest auf seine Parzelle eingeladen. Zwischen Blumen und Beeten, Hecken und Rüben wollte er eine gusseiserne Pfanne im XXL-Format befeuern und in ihr die, wie er vollmundig versprochen hatte, »weltbesten Bratkartoffeln der Welt« zubereiten. Als zweite Komponente seines Festmenüs hatte er sich frischen Fisch aus dem See ausgedacht, und anders als die Kartoffeln konnte er diesen nicht einfach aus den heimischen Beeten beziehen. Fische musste man erst angeln, bevor man sie aß.
Aus diesem Grund waren sie nun hier, Paul und Nele selbst. Die junge Frau lebte erst seit wenigen Monaten auf der Hortensia, fühlte sich dort – und in der Gesellschaft ihrer schrullig-liebenswerten Gärtneroriginale – aber schon pudelwohl. Nele hatte das VereinslokalStiefmütterchens Rast übernommen. Früher hatte es ihren Großeltern gehört, und sie hatte dort als Kind viele unvergesslich schöne Sommer verbracht. Doch nach dem Tod der alten Betreiber war dasStiefmütterchen in einen Dornröschenschlaf gefallen. Erst Neles Entschluss, dem Leben in der Stadt den Rücken zu kehren und auf der Hortensia neu zu starten, hatte es reanimiert – und Nele gleich mit. Seit sie auf der Kleingartenanlage lebte, wo alle sie Blümchen riefen und mit offenen Armen empfingen, fühlte sie sich wie neugeboren.
Paul holte aus und ließ die Angel in hohem Bogen kreisen. Dann ließ er den Köder ins Wasser und setzte sich wieder. Sein Knie stieß leicht gegen den weißen Plastikeimer, den sie für ihren Fang mitgenommen hatte. Bislan