1. KAPITEL
Während des morgendlichen Streits mit ihrem vierzehnjährigen Sohn versank Jenny in einem Tagtraum. Ein einziges Mal sollte sich jemand umsie kümmern. Nur ein Mal, dachte sie seufzend, soll mir die Welt zu Füßen liegen, anstatt über mich hinwegzutrampeln.
„Warum kann ich nach der Schule nicht zu Tige gehen?“, quengelte Seth jetzt auf dem Beifahrersitz. „Er hat ein neues Motorrad. Ich hab keine Lust zu warten, bis dein blöder Termin vorbei ist.“
„Keine Motorräder“, sagte Jenny in dem Ton, in dem sie normalerweise ihre Erstklässler ermahnte. Hoffentlich schafften sie es noch bis zur Schule, bevor ihr der Geduldsfaden riss. Sie trat etwas stärker auf das Gaspedal.
„Warum nicht? Josey fährt auch überall mit dem Motorrad hin.“
„Josey ist erwachsen“, erwiderte Jenny mühsam beherrscht. Das war der Unterschied zwischen einem Teenager und einem Kind: Der jüngere Seth hatte immer gewusst, wann er aufhören musste. „Joseys Mann hat ihr das Fahren beigebracht. Sie hatte noch nie einen Unfall. Doch Tige ist ein Rowdy, der keinen Helm aufsetzt und sein Motorrad schon zweimal zerlegt hat. Also: keine Motorräder.“
„Aber Mom, das ist nicht fair!“
„So ist das Leben. Gewöhn dich dran.“
„Wenn Dad noch hier wäre, würde er mich fahren lassen.“
Bevor ihr eine passende Antwort einfiel, bog sie um die letzte Kurve vor derPine Ridge Charter School, an der sie zwei Klassen unterrichtete. Überall standen Lastwagen und Autos herum, und grelles Scheinwerferlicht durchschnitt die sanfte Morgendämmerung.
Verdammt, dachte Jenny, als Seth sich vorbeugte, um den Trubel genauer zu betrachten. Über der Auseinandersetzung hatte sie ganz vergessen, dass heute die ersten Dreharbeiten an der Schule stattfanden.
Im Umkreis von hundert Meilen war diePine Ridge Charter School die einzige Einrichtung für Schüler von der ersten bis zur achten Klasse. Ihre Cousine Josey und ihre Tante Sandra hatten sie finanziert. Das Gebäude war im letzten Herbst gerade rechtzeitig zum Schulanfang fertig geworden. Was vor allem den Spenden derCrazy Horse Choppers zu verdanken war, also der Firma von Ben Bolton und dessen Brüdern Billy und Bobby. Die Boltons hatten mit ihren Motorrädern der Spitzenklasse viel Geld verdient. Josey war mit Ben Bolton verheiratet und erwartete ihr erstes Baby.
Was an sich merkwürdig genug war. Aber das war noch nicht alles: Bobby Bolton hatte mehrere Videos davon gedreht, wie sein Bruder Billy in der Werkstatt derChoppers Motorräder baute. Die Filme hatte er ins Internet gestellt, wo sie sehr gut ankamen. Vermutlich, weil Billy wie ein betrunkener Matrose fluchte und gelegentlich mit Werkzeug nach Leuten warf. Jenny selbst hatte keinen Internetzugang und die Show noch nie gesehen. Für sie klang das nach Trash-TV.
Inzwischen waren die Aufnahmen jedoch an ihre Schule verlegt worden. Billy Bolton sollte hier ein Motorrad bauen und den Schülern zeigen, wie man mit Werkzeug umgeht. Dann würden die Boltons das Motorrad versteigern und der Schule den Erlös zukommen lassen. Natürlich würde Bobby die ganze Sache filmen.
Jenny wusste nicht genau, welcher Teil der Geschichte ihr am wenigsten gefiel. Ben war wirklich in Ordnung. Er war konzentriert bei der Sache und sah auf dem Motorrad fantastisch aus. Obendrein machte er Josey glücklich – und damit auch Jenny.
Bobby,