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Zur Sicherheit las ich die Notiz, die ich heute Mittag in der ausgehöhlten Mauerfuge des Markthauses abgeholt hatte, ein fünfzehntes Mal.Siebter Tag, zur neunzehnten Stunde.
Das war heute. Und mir blieb eine knappe Stunde, um pünktlich zu sein.
Mit angehaltenem Atem lauschte ich auf die Geräusche unter mir. Vaters Stimme drang bis in meine Dachkammer. Seine Worte konnte ich nicht verstehen, doch die Sprachmelodie verriet mir, dass er eine vermeintlich lustige Geschichte zum Besten gab. Also würde meine Mutter höflich zuhören. Vincent war vermutlich eingenickt und Noé noch nicht zurück von seiner Schicht. Ich hatte ihnen gesagt, ich würde zu Bett gehen. Es vermisste mich also keiner.
Noch einmal musterte ich mich in dem schmalen, an den Rändern bereits blinden Spiegel, der neben meinem Bett am Dachsparren hing. Zwischen den fürchterlich wirren Locken lugte nur meine Nasenspitze über dem dicken Schal hervor. Ich hatte ihn mir mehrfach umgeschlungen, denn der Herbst meinte, unfreundlich und kalt zu sein.
Ich öffnete das Fenster im Giebel. Meine Heimatstadt Olresa lag in der abendlichen Dämmerung vor mir. Runenlichter erhellten den entfernt liegenden Villen-Stadtteil mit den hübschen grünen Gärten und ließen die Gegend der Reichen wie ein Juwel funkeln. Gleich daneben erhob sich die Akademie. Majestätisch sah die Festung mit der hohen Mauer und den Türmen aus, die dunkle Silhouette nur von einzelnen erleuchteten Fenstern durchsetzt. Direkt vor mir breitete sich mein Wohnviertel wie ein schwarzes Loch aus. Hier gab es keine Straßenlichter, keine Runenlampen in den Fenstern, keine Gärten oder gar Bäume. Hier wohnten jene, die in den Fabriken schufteten und Luxusgüter anfertigten, die sie sich selbst niemals leisten konnten.
Geübt schwang ich mich in den Fensterrahmen und zog mich hinaus aufs Dach. Dass ich diesen Fluchtweg noch immer nutzen konnte, war ein winziger Vorteil, den mir meine schmale Gestalt verlieh. Vermutlich würde ich mein Leben lang ein Strich bleiben. Milène, die im selben Monat wie ich geboren war, hatte bereits mit zwölf einen mächtigen Busen bekommen. Und mit vierzehn ihre Magie. Und mit fünfzehn ihr erstes Kind. Jetzt, sieben Jahre später, hingen zwei weitere an ihrem Rockzipfel. Hin und wieder neidete ich ihr die Magie. Die Kinder jedoch nicht.
Vorsichtig balancierte ich auf den Dachziegeln bis zur Kante. Der Schiefer war durch den Herbstregen glitschig, doch die aufgenagelten Holzstangen, die im Winter den Schnee stoppten, gaben mir Halt. Inzwischen fand ich den Weg nach unten wie im Schlaf. Fast jede Woche schlich ich mich im Schutz der Nacht aus dem Haus. Hätte meine Familie gewusst, wohin ich ging – sowohl meine Mutter als auch meine Brüder hätten ein riesiges Theater veranstaltet. Ich brach so gut wie jede Regel von Sitte und Anstand, Gesetzen und Vorsicht.
Vom Dachrand ließ ich mich auf den Rand des Regenfasses herunter und sprang zu Boden. Geduckt huschte ich unter dem Fenster vorbei, hinter dem meine Eltern und mein ältester Bruder am Kamin gemütlich zusammensaßen. Ob ich ihnen irgendwann von Tom erzählen würde? Eher nicht. Die Einzige, die von dem reichen Fabrikantenspross und meinem außergewöhnlichen und absolut illegalen Handel mit ihm wusste, war Peg, meine Tante.
Eilig lief ich die Gassen hinunter, an den endlosen Reihen ewig gleich aussehender Wohnhäuser entlang. Wand an Wand, schmal und aneinandergequetscht, reihten sich die Steinhäuser. Die Fabrikbesitzer hatten sie vor etlichen Jahren errichten lassen. Komfort boten die Häuschen kaum. Sie waren für die Arbeiter der großen Manufakturen vorgesehen, damit sie einen möglichst kurzen Arbeitsweg hatten. Wir wohnten im Gläserviertel, da mein Vater bei einem Glashersteller für Runenlampen schuftete.
Bald weitete sich die Gasse zu einer Straße, und schließlich bog ich auf die Avenue Liveru ein und betrat damit die schimmernd