EINFÜHRUNG
In den Medien weltweit wird immer wieder über sogenannte Ehrenmorde berichtet. Menschen ermorden andere Menschen, weil sie glauben, ihre persönliche Ehre oder die ihrer Familie sei verletzt worden. Die Täter geben an, sie hätten sich dazu gezwungen gesehen, diese Ehre durch den Mord wiederherzustellen. Menschen werden »im Namen der Ehre« ermordet, weil sie – tatsächlich oder vermeintlich – mit ihrem Verhalten gegen die tradierten Normen und Verhaltensregeln verstoßen und dadurch die Ehre verletzt haben. Für die Wiederherstellung der Ehre wird meist die physische Vernichtung der Person, die die Ehre verletzt haben soll, oder eines Mitglieds ihrer Familie gefordert.
Nicht nur archaisch-patriarchalische Familien und Gemeinschaften, sondern auch politische Gruppen und islamisierte Terrorgruppen bedienen sich des Ehrbegriffs. Sie legitimieren so unmenschliche Gewalttaten wie Geiselhaft, Versklavung, Köpfen und andere Formen der Ermordung von in ihrer Ideologie »unehrenhaften« Menschen.
Diese archaischen Weltanschauungen mögen veraltet und überwunden erscheinen, sie sind jedoch nach wie vor bei manchen Menschen tief verankert. In bestimmten Extremsituationen werden überflutende aggressive Emotionen aktiviert. Kommt gesellschaftlicher Druck hinzu, bleibt es nicht nur bei der emotionalen Überflutung, sondern die Emotionen werden ausgelebt. Andere Menschen werden von eigener Hand oder durch Handlanger ermordet. Die emotionale Bindung an diese Vorstellungen ist so stark und gegenwärtig, dass sogar Ehemänner, Brüder oder Väter ihre Ehefrauen, Schwestern oder Töchter töten. Im Falle einer Blutrache zwischen zwei Gruppen können Angehörige Hunderter Familien oder ganzer Gemeinschaften ohne ihr Zutun in diesen Konflikt verwickelt und in ihrer Grundsubstanz zerstört werden.
Patriarchalisch-archaische Vorstellungen haben sich in den letzten Jahren sowohl in den Herkunftsländern, wie in der Türkei, in Afghanistan, Marokko oder Ägypten, als auch in den Aufnahmeländern, wie beispielsweise in Deutschland, England oder Schweden, verstärkt. Die Zahl der getöteten Menschen im Namen der Ehre ist in den letzten Jahren gestiegen. Die ungeheuerlichen Formen von Gewalt erschrecken uns und machen uns rat- und fassungslos; wir sind kaum in der Lage, sie rational und emotional zu verstehen.
Von politisch motivierten Organisationen werden solche Taten rasch aufgriffen und dazu benutzt, die Debatte über Migration, Integration, Ausländer, Abschiebung etc. weiter anzufachen. Rasch kommt es zu einer Polarisierung und zum Teil sogar zu einer Radikalisierung, wie im aktuellen Konflikt zwischen der Hamas und Israel deutlich wird. Mögliche Gründe und Hintergründe werden kaum diskutiert, sie sind politisch nicht von Interesse. Dass die Morde zu verurteilen und die Täter zu bestrafen sind, bedarf meines Erachtens keiner Diskussion. Vielmehr geht es mir um den Versuch, dieses »System« der »Ehre«, der »Ehrenmorde«, der Blutrache und der terroristischen Gewalt zu erkunden, damit präventives Handeln entsprechend darauf ausgerichtet werden kann. Ziel muss sein, dass diese Gewalt und diese Ermordungen nicht mehr vorkommen, in Deutschland, Europa und weltweit. Scheinbar reichen die Androhungen der Rechtsstaatlichkeit mit Haftstrafen und sogar Todesstrafen nicht aus. Es braucht ein vertieftes Wissen und Verständnis zu diesem Thema.
In diesem Buch möchte ich versuchen, auf der Basis meiner zahlreichen Begutachtungen von Tätern und psychotherapeutischen Gespräche mit bedrohten Opfern Erklärungsmodelle anzubieten und Lebensvorstellungen zu beschreiben, die in Verbindung zu traditionellen Vorstellungen von »Ehre« stehen – auch um eine Grundlagendiskussion anzuregen. Neben Bezügen zu wissenschaftlichen Erkenntnissen möchte ich gleichzeitig tatsächliche Fallbeispiele vorstellen und diskutieren. Es geht dabei nicht darum, bestimmte Gruppen, Werte, Normen oder Religionen zu verurteilen oder in Misskredit zu bringen. Vielmehr sollen dieses rational so schwer fassbare Thema vor einem wissenschaftlichen Hintergrund analysiert und verschiedene Vorstellungen und Ideen vorgestellt werden, um daraus Ansätze für die Gewaltprävention auf politischer, gesellschaftlicher und praktischer Ebene abzuleiten.
Das Buch umfasst sechs Kapitel. Im ersten Kapitel werde ich auf die konfliktreiche Geschichte des Nahen Ostens eingehen, die das Fortbestehen patriarchalischer archaischer Gesellschaften und die Bewahrung der tradierten Werte und Normen bis in die Gegenwart einordenbar macht. Das zweite Kapitel widmet sich den gesellschaftlichen und familiären Strukturen dieser patriarchalischen archaischen Gesellschaften, die Gewalt im Namen der Ehre begünstigen bzw. als Teil der gesellschaftlichen Normen legitimieren. Im dritten Kapitel gehe ich auf psychologische und soziale Dynamiken und Erklärungsansätze für Aggressionen und Gewaltbereitschaft ein. Diese versuchen zu erklären, wie Menschen in der Lage sein können, selbst nahestehende Familienangehörige zu ermorden. Die Formen und Folgen der geschlechtsspezifischen und sexualisierten Gewalt, die durch die patriarchalischen archaischen Vorstellungen zu Geschlechterrollen und zu Sexualität