1.
Sie hatten sich in Strahan, Tasmanien, getroffen, in Tel Aviv und in Luxemburg. In Kihei auf Maui, in Salamanca und in Hamburg. Dieses Mal also in der Upper East Side in Manhattan. Wo der Septemberwind in Form einer warmen Brise durch die Straßen strich und die Kronen der wenigen Bäume in ein sanftes Rauschen versetzte, weil er bereits von den Ausläufern eines heranziehenden Gewitters vertrieben wurde. Eine Vorahnung des Herbstes erreichte New York City.
Sienna White wusste, er kam nicht gern hierher, obwohl er nur 800 Kilometer entfernt in Toronto in Kanada lebte.Die besserenUSA, wie einige unkten. Aber gemessen an den Weiten Nordamerikas nur einen Katzensprung vomPappardella entfernt, einem kleinen Restaurant Ecke Columbus Avenue und West 75th Street in der Upper East. Ein steinerner Schwarz-weiß-Boden und Fotografien aus Italien an den Wänden, die langsam vergilbten. Zusammen mit den weißen Tischdecken und der mit Holz verkleideten Decke vermischten sie sich zu jener Erinnerung, die jeder, der noch nie in Italien gewesen war, an das Land zu haben glaubte.
Auf der tiefroten Markise draußen prangte in verwaschenem Weiß der SchriftzugCucina tipica Italiana. Was von den meisten Passanten als Verheißung und einigen wenigen als Warnung aufgefasst wurde.
Im Innenraum untermalte Andrea BocellisCon te partirò diese Illusion und die abgewetzten Sitzflächen der Barhocker komplettierten den legeren Eindruck, sich imPappardella in einer Art erweitertem Wohnzimmer zu befinden. Bei Freunden.
Auf all das blickte Sienna White, die sich an ihrem Tisch für den Platz auf der Bank entschieden hatte. Mit dem Rücken zu den Fotos aus Rom und Neapel. Und mit einem Exemplar derNew York Times, das sie neben ihrer Handtasche abgelegt hatte.
Sienna White würde nächstes Jahr 45 werden. Sie war brünett, groß und dünn. Sie trug flache Schuhe und wenig Schminke, eine weiße Baumwollhose und eine olivefarbene Bluse, die ihren mediterranen Teint unterstrich. Dabei mied sie, wenn möglich, die Sonne.
Aber angeblich hatte irgendeine Urgroßmutter in ihrem weitverzweigten Stammbaum am Mittelmeer gelebt und diesen Hautton in feinen Schattierungen an ihre Nachfahren weitergegeben.
Jack Davis betrat das Lokal und bekam den Tisch neben ihr zugewiesen, was kein Zufall war, denn er hatte ihn reserviert. Er war knapp ebenso groß wie sie, Bauchansatz und kleine Hände, die frei von Schwielen oder anderen Hinweisen auf körperliche Arbeit waren.
Die Schläfen grau, die Geheimratsecken tief, ein Allerweltsgesicht mit einem wachen, aber wässrigen Blick. Es gab nichts an seiner Erscheinung, an seiner Art zu sprechen, sich zu bewegen oder auch nur zu atmen, was einen aufmerken ließ. Davis war niemand, an den man sich später erinnern würde. Ein Grad von Unscheinbarkeit, der an Unsichtbarkeit grenzte.
Auch seine Stimme, mit der er bei dem beleibten Kellner die Bestellung aufgab, hatte nichts Markantes an sich.
Alles an ihm lud dazu ein, ihn zu vergessen. Er war – Zufall oder Absicht – der perfekte Niemand.
Davis hatte sie zwar mit einem Lächeln und einem angedeuteten Nicken begrüßt, bevor er am Nebentisch Platz genommen hatte – wie man das als ein höflicher Mensch eben tat –, sie seitdem aber mit keinem Blick bedacht.
Er trug Slipper und eine hellgraue Sommerhose, dazu ein blaues Shirt und ein helles Leinenjackett.
Seine Kleidung wechselte über die Jahre und Orte. Keine Hose, kein Hemd, keine Jacke, die Sienna je ein zweites Mal gesehen hätte.
Manchmal ruhte eine Brille auf seinem Nasenrücken. Heute nicht.
Das Auffallendste an Jack Davis war eine Narbe, eine Art Schmiss am linken Auge, der ein paar Lachfältchen vertikal durchtrennte. Eine längst verheilte Verletzung, wie Sienna White vermutete.
Analog zu seiner Kleidung war er auch kulinarisch schwer zu fassen. Aus den bisherigen Treffen hatte sie abgeleitet, Davis sei kein Freund von Fisch, um jetzt zu hören, wie er neben einem Wasser und einem leichten Weißwein dieRavioli di Astice bestellte – mit Hummer gefüllte Ravioli.
Er war, wurde ihr bewusst, nicht zu greifen. Buchstäblich nichts an ihm wiederholte sich, alles war einer ständigen Veränderung unterworfen.
Als passte er sich mit traumwandlerischer Präzision an die jeweilige Situation an. Wie ein Chamäleon.
Auch diese Traurigkeit, die heute in seinen Gesten lag, in seinem Blick, der abhandengekommenen Leichtigkeit seiner Bewegungen. Ganz dezent hatte sie von seinem Wesen Besitz ergriffen. Im Blick, in den Augenbrauen, in der Art, wie er die Speisekarte angefasst hatte. Sienna hätte es nicht konkret an etwas festmachen können, aber sie spürte seine Schwermut. Eine jener hilflosen Art, die etwas Unbezwingbarem galt, der Schlechtigkeit der Welt etwa, obwohl Sienna sich sicher war, dass Davis’ Traurigkeit nicht ihr galt. »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe«, sagt