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»Wie lange noch?«
»Der Kapitän kann es nicht genau sagen. Er hofft, dass wir vor heute Abend auslaufen können.«
»Abend? Es ist Mittag!«
»Majestät, es wurden für Sie Zimmer im Palazzo …«
Marie unterbrach die Hofdame Lore mit einer energischen Handbewegung. »Ich will mich nicht in einem Zimmer verkriechen.«
»Majestät, es ist ein Appartement im schönsten Hotel …«
»Auch dort nicht.« Marie wartete bereits drei Stunden in einem Pavillon am Hafen von Triest, um an Bord der K.u.K. Dampfyacht zu gehen, die für sie und ihre Gefolgschaft vom Kaiser von Österreich bereitstand. Schließlich war Marie die Schwester von Kaiserin Elisabeth, von ihrer Mutter Ludovika beauftragt, zu Sisi nach Korfu zu reisen und sie aufzuheitern, da sie wieder unter einem Anfall schwerer Melancholie litt.
»Man erzählt sich Gutes von den Cafés in Triest. Suchen Sie das beste und berühmteste für mich«, befahl Marie.
»Sehr wohl, Majestät.«
»Damit ich dort ja keinen Fuß hineinsetze.«
Lore blickte verwirrt. Die Hofdame war immer leicht nervös und hatte, wie Marie fand, das Gesicht eines Irish Setters.
»Ich verstehe nicht …«
»Und wenn Sie das berühmteste gefunden haben«, fuhr Marie fort, »dann suchen Sie mir ein Café, das bei Künstlern beliebt ist.«
»Sehr wohl.«
Lore knickste und eilte davon.
Marie stand von der Holzbank auf und trat aus dem verglasten Pavillon ins Freie. Die Möwen zogen in der Luft kreischend ihre Runden. In Sichtweite, an der Kaimauer, lag die Segelyacht, die sie nach Korfu bringen sollte.
Die Segel waren eingeholt, aus dem Schornstein stieg kein Rauch.
Selbst Anfang September lag über Triest eine drückende Hitze, die nur eine sanfte Meeresbrise erträglich machte. Marie freute sich auf Korfu, die Insel, die selbst in der Trockenheit der Sommermonate ihre grüne Pracht behielt.
Auf ihre Schwester freute sich Marie weniger. Nach der Krönung zur ungarischen Königin hatte Elisabeths Euphorie nur kurz angehalten und war dann offenbar einer Niedergeschlagenheit gewichen, die sie zu einem weiteren Aufenthalt auf Korfu veranlasst hatte.
Wie sollte Marie dort der Langeweile entfliehen? Sie wollte reiten, sie wollte auf Fuchsjagd, sie wollte endlich das Jagdschloss sehen, das im Westen Englands in ihrem Auftrag gekauft werden sollte.
Lore kehrte geschäftig zurück. »Das Café ist in unmittelbarer Nähe, aber ich muss Sie warnen, es verkehren dort gewöhnliche Leute, die eine Seereise unternehmen wollen.«
»Ganz nach meinem Geschmack«, stellte Marie fest.
Begleitet von zwei Wächtern und ihrer Hofdame suchte sie das Café mit dem klingenden Namen San Marco auf.
Angenehme Kühle empfing sie. Nur ein paar der Marmortische waren besetzt. Für Marie war es hier viel zu ruhig.
Froh, dass ihre Bewacher in Zivil waren und so keine unnötige Aufmerksamkeit erweckten, nahm sie an einem Ecktisch Platz. Lore setzte sich sofort zu ihr und winkte den Kellner herbei.
»Nenn mich nicht Majestät«, zischte Marie warnend.
Lore, die gerade ansetzte, etwas zu sagen, schloss den Mund.
»Kaffee, italienischen Kaffee. Groß«, riss Marie die Hofdame aus ihrer Starre. Sofort übermittelte Lore die Wünsche ihrer Herrin an den Kellner.
Drei Tische weiter fiel Marie ein gutaussehender Mann auf, den sie auf ihr Alter schätzte, oder sogar etwas jünger. Er saß über ein Buch gebeugt, in das er etwas eintrug.
Sie musterte ihn verstohlen aus den Augenwinkeln: aufrechte Haltung, schlanker Körper, feine Gesichtszüge, das Haar nicht zu kurz und nicht zu lang. Sein helles Leinenhemd war oben offen, die Jacke lag auf der Lehne des freien Stuhls neben ihm.
»Der Kaffee kommt gleich«, sagte Lore.
Der Mann schrieb und schrieb. Seine Kaumuskeln zuckten in unregelmäßigen Abständen. Mit der freien Hand strich er eine Haarsträhne zurück.
War er Schriftsteller? Oder Dichter?
»Geh zu dem Mann«, trug sie Lore auf, »lass ihm eine Tasse Kaffee bringen und sag ihm, sie wäre ein Geschenk von mir.«
Marie hoffte, der Mann würde den Anstand haben, sich persönlich bei ihr zu bedanken und dazu an ihren Tisch kommen.
Lore war die eigenartigen Wünsche ihrer Herrin mittlerweile gewohnt und widersprach nicht. Sie wusste, dass es sinnlos war.
Aufmerksam beobachtete Marie, wie Lore zu ihm ging und mit ihm sprach. Er sah zu ihr. Sie senkte schnell den Blick.
»Er bedankt sich«, hörte sie Lore neben sich.
Maria wäre um ein Haar aufgebraust, weil der Mann nicht persönlich gekommen war, hatte sich aber schnell wieder unter Kontrolle. Sie musste ihm wohl etwas auf die Sprünge helfen.
»Bestell ihm, dass ich zu einer Unterhaltung einlade. Da ich mich, wie er, für das Schreiben interessiere.«
Widerstrebend ging Lore zurück. Marie konnte nicht hören, was sie sagte. Sie redete auf ihn ein, bis der Mann das Buch zuklappte, die Schreibfeder in einem Etui verstaute und beides in eine Ledertasche steckte. Dann stand er auf und kam zu ihrem Tisch.
Er verneigte sich.
»Mylady.«
Marie lächelte. Hätte er gewusst, wer vor ihm saß, hätte er sie mit »Your Majesty« ansprechen müssen. Schließlich hatte er es mit der Königin von Neapel zu tun, aber das musste er nicht wissen. Sie grüßte ihn auf Englisch und bot ihm an, sich zu setzen.
Der Mann war überrascht.
»Wie kommt es, dass Sie so gut Englisch sprechen?«
»Seit ich ein Kind war, wurde ich darin unterrichtet«, sagte sie. »Darf ich Sie nach Ihrem Namen fragen?«
»Percy.«
»Percy?« Sie dehnte die letzten Buchstaben zu einer langen Frage, damit er ihr auch seinen Familiennamen verriet, aber er ging nicht darauf ein.
»Ihre Begleiterin hat mir verraten, Sie interessieren sich für das Schreiben«, sagte der Mann stattdessen.
»So ist es. Allerdings bin ich blutige Anfängerin. Sie scheinen darin sehr geübt.«
Er lachte geschmeichelt. »Ich muss Sie enttäuschen. Meine Leidenschaft liegt woanders.«
»Ach, worin?«
»Habe ich ihn überhört oder hatte ich noch nicht die Ehre, Ihren Namen zu erfahren?«, fragte er, statt eine Antwort zu geben.
Marie gefiel er immer besser. Er hatte etwas Unerschrockenes, fast Respektloses.
»Marie.«
»Sehr erfreut, Marie.« Die Hand auf der Brust neigte er seinen Oberkörper leicht nach vorn.
»Sind Sie länger in Triest oder reisen Sie weiter?«, wollte Marie wissen.
»Mein Ziel ist die Insel Korfu.«
Marie zog eine Augenbraue in die Höhe. »Was für ein Zufall, meines auch.«
»Nehmen Sie das Schiff, das in einer Stunde ausläuft?«, fragte der Mann. »Ich kann Sie zum Hafen begleiten.«
»Nein, danke«, lehnte Marie schnell ab. »Sehr freundlich, aber …«
Sie konnte ihm nicht verraten, dass die kaiserlich-königliche Dampfyacht für sie und ihren Hofstaat bereitstand. Dann hätte er sofort gewusst, mit wem er hier so ungeniert sprach.
»Aber?« Er sah sie fragend an. »Sie haben den Satz nicht vollendet.«
Die Uhr einer nahen Kirche schlug zwei Uhr.
»Schon zwei? Ich dachte, es wäre erst halb eins.« Er fuhr in die Höhe. »Gerne hätte ich das Gespräch fortgesetzt. Vielleicht ergibt sich ein anderes Mal eine Gelegenheit. Vielleicht auf Korfu.«
»Vielleicht.«
»Es wäre mir ein großes Vergnügen.«
Nachdem er sich abermals verneigt hatte, verließ er fluchtartig das Kaffeehaus. Durch die hohe Scheibe sah Marie, wie er mit großen Schritten Richtung Hafen rannte.
»Die Tasche«, rief Lore. Sie hielt die Ledertasche am Gurt hoch.
Percy hatte sie vorhin auf der Bank stehengelassen, als er zu Marie an den Tisch gekommen war.
Lore eilte zum Ausgang des Cafés, wo einer der Männer des Geheimdiensts stand und Wache hielt. »Suchen Sie den Mann, geben Sie ihm seine Tasche.«
»Er will zum Schiff nach Korfu«, rief Marie.
Eine Stunde später kehrte der Mann zurück, die Tasche noch immer bei sich. Marie hatte bereits ihren zweiten Kaffee getrunken, die Bilder imSan Marco betrachtet und sich zu langweilen begonnen.
»Er war nicht zu finden. Weder am Kai noch auf dem Schiff.«
»Dann geben Sie mir die Tasche«, verlangte Marie. »Ich werde sie verwahren.«
Die Chancen standen gut, dass es in Korfu unterhaltsamer werden würde, als...