: Ingo Rose, Barbara Sichtermann
: 'Fahren Sie sofort los!' Alexandra Kollontai: Ein Frauenleben zwischen Auflehnung und Macht
: Verlag Kremayr& Scheriau
: 9783218014373
: 1
: CHF 17.00
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: Biographien, Autobiographien
: German
: 304
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wenn nicht ich, wer sonst? Eine differenzierte Biografie der russischen Vorkämpferin für soziale Gerechtigkeit und Frauenemanzipation. Alexandra Kollontai (1872-1952): Ein Mädchen aus gutem Hause zieht es in den Untergrund von St. Petersburg, wo Ende des 19. Jahrhunderts die Revolution gärt. Als Sozialistin will sie die Gesellschaft verändern, die Frauen befreien. Im Exil erlebt sie mit, wie ihre politischen Freunde den Ersten Weltkrieg bejahen. Die russische Revolution holt sie nach Petrograd zurück. Hier wird Kollontai Mitglied im ersten Kabinett Lenin und erste Botschafterin der modernen Welt, stets im Widerstreit zwischen gesellschaftlichem Idealismus und politischer Realität. Bis heute gelten ihre Werke als feministische Pflichtlektüre.

Ingo Rose, 1963 geboren, lebt seit vierzig Jahren in Berlin, ist Dozent für Erwachsenenbildung und schreibt seit zwanzig Jahren mit seiner Lebensgefährtin Barbara Sichtermann Essays und Romanbiografien. Barbara Sichtermann, 1943 geboren, ist Journalistin und Schriftstellerin. Sie studierte Volkswirtschaft in Berlin und arbeitet seit 1978 als freie Autorin. Sie schrieb mehr als dreißig Bücher und erhielt verschiedene Preise, u. a. den Jean-Améry- Preis für Essayistik und den Theodor-Wolff- Preis für ihr Lebenswerk.

Prolog
Das alte Russland


Am 19. März im Jahre 1872 kam Alexandra Michailowna Domontowitsch in St. Petersburg zur Welt. Sie war ein Kind der Liebe. Ihr Vater, der Offizier Michail Alexejewitsch Domontowitsch, stammte aus der Ukraine, und ihre Mutter Alexandra Alexandrowna Massalina-Mrawinskaja kam aus einer finnischen Holzhändlerfamilie; ihrer beider Herkunftsländer gehörten damals zum Russischen Reich. Sie hatten sich in ihrer Jugend kennen und lieben gelernt. Aber aus der ersehnten Heirat wurde nichts. Alexandras Vater Alexander Massalin glaubte nicht daran, dass es dem jungen Verehrer seiner Tochter mit der Eheschließung ernst sei. Denn das Geschlecht der Domontowitsch war von sehr altem Adel, und so erschien es zweifelhaft, dass Michails Eltern eine Holzhändlertochter als Frau für ihren Sohn akzeptieren würden. Eilig suchte und bestimmte der besorgte Massalin einen anderen Mann für seine Tochter.

Die Verliebten mussten sich fügen. Alexandra Alexandrowna heiratete den Ingenieur Konstantin Iosipowitsch Mrawinski, sie bekam mit ihm zwei Töchter und einen Sohn. Aber sie konnte ihre Jugendliebe nicht vergessen, und als sie und Michail sich zehn Jahre nach der Trennung wiedersahen, zeigte sich, dass auch Michail seine Alexandra nicht vergessen hatte. Die beiden holten nach, was sie in jungen Jahren hatten versäumen müssen, und als Alexandra schwanger wurde, ließ sie sich von Mrawinski scheiden und heiratete bald nach der Geburt ihrer Tochter deren Vater Domontowitsch. Es galt, ihr altes junges Glück für dieses Mal und für immer festzuhalten. Der Vater erklärte das gemeinsame Kind nach der Hochzeit für seines und adoptierte es.

Für die kleine Alexandra waren, als sie das Licht der Welt erblickte, nicht nur ein verliebtes Elternpaar da, sondern auch noch zwei Halbschwestern und ein Halbbruder, ganz abgesehen von Ammen und Kinderfrauen und Bediensteten, die sie auf den Armen umhertrugen. Wie hübsch und wie erstaunlich sie war: rund und rosig, ein dichter dunkelblonder Lockenschopf, schöne blaue Augen, eine kaum zu bändigende Lebhaftigkeit, ein Kind, wie man es sich nur wünschen kann.

Russland wurde damals von Zar Alexander II. aus der alten Dynastie der Romanow regiert. Der herrschte von Gottes Gnaden über das größte Reich der Erde und viele verschiedene Völker, darunter auch die Ukrainer und die Finnen. Es war erst elf Jahre her, dass er die Leibeigenschaft der Bauern aufgehoben hatte. Und die Bauern – das war der weit überwiegende Teil der Bevölkerung. Zwischen achtzig und neunzig Prozent der Menschen lebten auf dem Lande, die meisten waren bitterarme Selbstversorger und seit Generationen daran gewöhnt, ihren Gutsherren saftige Abgaben zu leisten. Als sie im Jahre 1861 vernahmen, dass sie befreit werden sollten, hofften sie auf eine Verbesserung ihrer Lage. Die aber blieb aus, denn sie erhielten die ihnen zugeteilten Äcker nicht umsonst, sondern mussten den Preis über eine Art Grundsteuer, die von der Dorfgemeinschaft eingesammelt wurde, abstottern. Die Bauern waren zumeist des Lesens und Schreibens unkundig, sie wussten überhaupt nicht, wie ihnen geschah, verstanden die neuen Verordnungen nicht und zogen mit Heugabeln und Sensen vor die Ämter in ihren Dörfern, um dort die Obrigkeit zu ersuchen, sie mit der so genannten Freiheit zu verschonen. Es kam zu Hunderten von Aufständen. Die Zentralregierung, sprich der Zar, stand aber zu seinerGroßen Reform. Er hatte seine Gründe.

Acht Jahre vor der Aufhebung der Leibeigenschaft war Russland, dama