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GEFÄNGNIS LA SANTÉ
RUE DE LA SANTÉ 42
MONTPARNASSE, 14. ARRONDISSEMENT
PARIS, FRANKREICH
11:58 UHR ORTSZEIT
Nicholas Woland, den sowohl die Häftlinge als auch das Wachpersonal einfach als »l’américain« kannten, saß auf der Kante seiner harten, schmalen Pritsche. Seine Hände ruhten auf den Knien. Mit geschlossenen Augen begann er eine Viertaktatmung, um sich zu wappnen – eine Technik, die er sich in seiner zehnjährigen Dienstzeit als Green Beret bei der Army angeeignet hatte. Den Großteil der in seinem früheren Leben gelernten Dinge hatte er ähnlich abgeworfen wie eine Raumkapsel ihre Antriebsrakete nach Erreichen der Umlaufbahn.Manches jedoch hatte er beibehalten.
Die taktisch nützlichen Teile …
Nach zwei Runden verlangsamte sich sein Puls, und die Verspannungen im Nacken und in den muskulösen Schultern lockerten sich allmählich. Der große Tag war angebrochen. Er musste sich sowohl körperlich als auch geistig darauf vorbereiten, seinen Teil zum Erfolg des Plans beizutragen. Eine zweite Chance würde es nicht geben, so viel stand für ihn fest.
Seine Zelle im zweiten Stock von Block D war im Vergleich zu den meisten anderen geräumig – den Luxus hatte er sichverdient, nachdem man beim Morgenappell seinen bereits dritten Zellengenossen tot auf dem Boden vorgefunden hatte. Gefängnisdirektor August Chauvin hatte Woland zur Strafe in Einzelhaft verlegen lassen. Nach 45 Tagen hatte man ihn in Block D gebracht. Den Status als Einzelhäftling hatte er dort beibehalten. Ein schlichtes weißes Schild mit der AufschriftPuni wies vor seiner Zellentür auf seine Dauerbestrafung hin. Eine administrative Formalität, mit der sich Direktor Chauvin die Anwälte und die Heerschar französischer Menschenrechtsaktivisten vom Leib hielt, vor denen er zu einem Kniefall verpflichtet war. Chauvin war Politiker, kein echter Gefängnismensch, und kahl wie ein Ei. Dass sein berüchtigter amerikanischer Häftling unter seiner Obhut drei Mitgefangene ermordet hatte, gefährdete die Laufbahn des Mannes. Woland wusste, dass der untaugliche Gefängnisleiter alles tun würde, um seine Karriere zu retten, auch wenn dafür eine Pritsche in Wolands Zwei-Mann-Zelle dauerhaft unbesetzt bliebe.
Vor den Renovierungsarbeiten waren die Lebensumstände in Frankreichs verrufenster Haftanstalt erheblich barbarischer gewesen. Aber der Ruf nach Reformen hatte den unmenschlichen Bedingungen und der brutalen Behandlung der Häftlinge in La Santé ein Ende gesetzt. Anscheinend waren die Pariser Befindlichkeiten genauso hartnäckig wie naiv. Den Beweis dafür hatte geliefert, dass man bei HGTV sogar einen Bericht über die »Verschönerung« der Haftanstalt gebracht hatte, die Frankreichs gefährlichste Schwerverbrecher beherbergte. Allerdings hatte er trotz der Reformen genug von dem Ort.
Nicholas Woland wollte niemandes eingesperrtes Tier sein.
Und er würde sich im übertragenen Sinn die eigene Pfote abnage