Kapitel Eins
Dalia
Paris, Juni 1979
Wenn sie sich nicht bewegte, einfach nur ruhig dalag, verloren sich die Bilder, die Erinnerungen, die sich ihr aufdrängten, seit sie den Anruf erhalten hatte. In diesem Augenblick zog die Musik sie in die Wirklichkeit zurück.
Dalia hob den Kopf und lauschte. Tamás hatte sich im Musikzimmer an den Flügel gesetzt und spielte Schubert.
Leise flehen meine Lieder durch die Nacht zu dir ...
Dalia lächelte und entspannte sich langsam. Schließlich stand sie auf und zog den Kimono an, den ihr Tamás von einer Konzerttournee aus Japan mitgebracht hatte. Im Musikzimmer trat sie unbemerkt hinter ihn und schlang ihre Arme um seinen Hals.
»Schön«, flüsterte sie ihm zu, »das klingt wie früher.«
»Ja, es wird besser«, gab er zu, ohne sich umzudrehen. Dalia ließ ihn los und setzte sich auf dierécamière, nicht weit entfernt vom Flügel.
»Kannst du nicht schlafen?«, fragte er, nahm die Hände von den Tasten und wandte sich ihr zu.
Dalia schüttelte den Kopf. »Ich habe wieder geträumt, von damals.«
»Wieso so plötzlich?«
Als Antwort zuckte sie nur schweigend die Schultern und schien ganz damit beschäftigt, ihren Kimono über die Knie zu ziehen.
»Was ist los?« Tamás warf ihr einen prüfenden Blick zu, erhob sich vom Schemel und setzte sich neben sie.
Jetzt sah Dalia auf.
»Gestern hat mich der Anwalt meines Vaters angerufen, ein Dr. Küppers. Er bat mich, in die Rheinberg-Villa zu fahren und dort Dokumente aus dem Safe zu holen.«
»Kennst du die Kombination?«
»Nein, noch nicht. Aber ich bekomme sie in einem verschlossenen Kuvert. Dr. Küppers betonte, mein Vater sei sehr eigen in dieser Sache und will nur mir die Kombination geben. Er wollte wissen, wann ich kommen könnte und so haben wir uns auf nächsten Freitag geeinigt.«
Tamás schwieg, massierte nur seine Hand und ließ sie kreisen. »Warum hast du mir nichts von dem Anruf erzählt?«, fragte er dann. »Das klingt ja alles sehr geheimnisvoll.«
»Ich wollte mir erst klar darüber werden, was ich will. Jetzt aber habe ich mich entschlossen, heimzufahren. Es ist der richtige Zeitpunkt«, setzte sie ruhig hinzu und sah Tamás an, der weiterhin seine Fingerübungen machte.
»Warum solltest du das machen?«
»Mein Vater ist in einer Klinik. Wo genau, hat man mir nicht gesagt, es soll geheim bleiben.«
»Wieso geheim?«, wollte Tamás wissen.
»Weil ihn die Presse verfolgt, seit er letztes Jahr zum erfolgreichsten Unternehmer des Jahres gekürt wurde. Er ist schwer herzkrank und muss jede Aufregung vermeiden.«
»Wegen dieser Auszeichnung wird er verfolgt?«
Dalia schüttelte den Kopf. »Nein, aber irgendein Journalist hat die Vergangenheit ans Licht gezerrt. Und plötzlich ging die alte Geschichte wieder durch die gesamte Boulevardpresse.«
»Ach so, verstehe. Und wirst du deinen Vater besuchen?«, fragte Tamás weiter.
»Tamás, bitte stell mir nicht so viele Fragen, ich weiß es einfach noch nicht.« Tamás sah seine Frau überrascht an, da ihre Stimme ungewohnt gereizt klang. »Du weißt doch«, erklärte Dalia jetzt in ruhigerem Ton, »mein Vater und ich hatten nie eine enge Beziehung. Wir vermissen einander nicht. Aber trotzdem werde ich am Donnerstag nach Wien fliegen, da der Anwalt mir am Freitag den Brief mit der Kombination bringen lässt.«
Tamás war immer noch damit beschäftigt, seine rechte Hand zur Faust zu schließen, sie wieder zu öffnen und die Finger zu bewegen. Dalia konnte das kaum mitansehen.
Vor zwei Jahren war ihr Mann so unglücklich eine Treppe hinuntergestürzt, dass er sich mehrmals seine Hand gebrochen hatte. Auch nach mehreren Operationen hatte er noch nicht die ganze Kraft seines Spiels und seine berühmte Leichtigkeit wiedererlangt. Doch Tamás arbeitete mit eisernem Willen an seinem Comeback.
»Aber ist es denn so eilig? Muss es schon diesen Freitag sein?«, fragte er. Dalia wollte ihm einen Kuss auf die Wange geben, aber er wich ihr aus und ging zum Flügel zurück. Er spürte ihr Mitleid, und das konnte er nicht ertragen.
»Es ist schwer fü