: Vincenzo Cerami
: Ein ganz normaler Bürger
: Alexander Verlag Berlin
: 9783895816291
: 1
: CHF 17.50
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 192
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein moderner Klassiker der italienischen Literatur Ein ganz normaler Bürger erzählt die Geschichte von Giovanni Vivaldi, einem kleinen Beamten eines römischen Ministeriums, der alles daran setzt, seinem Sohn Mario zu dem Wohlstand zu verhelfen, den er selbst nur ansatzweise erreichen konnte. Höhepunkt dieser Anstrengung ist Giovannis Eintritt in die Freimaurerloge, mit deren Untertsützung es Mario gelingen soll, die Prüfung für die ersehnte Festanstellung im Ministerium zu bestehen. Doch am Morgen vor der Prüfung fällt Mario einem bewaffneten Banküberfall zu Opfer. Das tragische Ereignis stellt das Leben von Giovanni und seiner Frau Amalia auf den Kopf ... Vor dem Hintergrund der Studenten- und Arbeiterrevolte der 1970er-Jahre stellt Cerami keinen Rebellen in den Mittelpunkt seiner Geschichte, sondern erhebt einen Kleinbürger, einen Repräsentanten der 'schweigenden Mehrheit', zum Symbol einer Epoche. Ein in grau getauchtes, trübes Rom wird zur Kulisse für eine psychologische Studie, die mit großer Genauigkeit und grotesker Ironie die Radikalisierung eines Mannes vor Augen führt, der sich von Staat und Leben betrogen fühlt. »Ein schöner, grausamer Roman.« Pier Paolo Pasolini »Ein Roman u?ber die Zerbrechlichkeit eines Durchschnittsbu?rgers, der, von allem beraubt, keine andere Wahl hat, als ein Monster zu werden.« Nicola Lagioia »Der Roman besitzt die nu?chterne Genauigkeit eines Meisterwerks.« Rai Radio 3 »Ich war dreißig und hatte versucht, mich in die Rolle eines Beamten zu versetzen, der kurz vor der Pensionierung steht. Es ging mir darum, einen Stil zu finden, der die stille, grausame Musik wiedergibt, die das Leben einer Gesellschaftsschicht begleitet, das nur noch aus leeren Ritualen besteht, versunken in einer u?berholten Kultur. Die Sprache, die ich dafu?r gefunden habe, ?presst sich? eng an die Fakten und ist genauso erbarmungslos wie das Leben der Protagonisten.« Vincenzo Cerami

Vincenzo Cerami (1940-2013) gab sein literarisches Debüt 1976 mit dem Roman »Ein wirklich kleiner Kleinbürger« (Un borghese piccolo piccolo), der ihn schlagartig bekannt machte und u. a. von Italo Calvino und Alberto Moravia gefeiert wurde. 1977 wurde das Buch von Mario Monicelli verfilmt. Cerami war Regieassistent bei Pasolini, der zum Freund und Mentor wurde, und schrieb Drehbücher für bekannte Regisseure wie Marco Bellocchio, Ettore Scola und Gianni Amelio. Die produktivste Zusammenarbeit verband ihn mit Roberto Benigni, mit dem u. a. das Drehbuch zu dem oscarprämierten Film Das Leben ist schön entstand.

»Und du hast alle Antworten gewusst?«, fiel Giovanni seinem Sohn ins Wort.

Mario nickte stolz.

»Das ist wirklich enorm!«, sagte Giovanni und zupfte prüfend an der Angelschnur, ob schon einer angebissen hatte. »Jetzt stell dir mal vor, das ganze schöne Geld aus deiner Prüfungsfrage würde uns gehören … in einem Jahr hättest du es glatt verdreifacht!«

Mario streckte sich im Gras aus und blickte in den blauen Himmel, der ihm wie eine mit Kreide bestäubte Tafel vorkam.

»Zahlen sind das eine, Papà, Geld etwas anderes.«

»Mein Sohn ist jetzt Buchhalter … Buchhalter Mario Vivaldi.« Mit kühnem und distinguiertem Tonfall fuhr Giovanni fort: »Dottore, darf ich Ihnen meinen Sohn vorstellen? … Aber bitte doch! … Buchhalter Mario Vivaldi – Dottor Spaziani, Abteilungsleiter Personalbüro, Pensionsbehörde … Sehr erfreut!« Er lachte.

»Du wirst deinen Weg gehen, so wahr mir Gott helfe. Und du fängst da an, wo ich nach dreißig Dienstjahren aufhöre … mit gerade mal zwanzig. Ein junger Mann, der etwas werden will, denkt nur an sein Fortkommen, an nichts sonst, sollen die anderen sich den Strick nehmen!«

Bei diesen Worten umklammerte Giovanni die Angelrute, als wolle er jemanden erwürgen.

» … Ab morgen wird alles anders … Von meinem ersten Gehalt kaufen wir einen neuen Fernseher und du kannst dir ein anderes Auto leisten … der Fiat fällt doch komplett auseinander«, sagte Mario etwas großspurig, um dem Vater seine Dankbarkeit zu zeigen.

»Du darfst nur an dich denken, nur an dich«, wiederholte der Vater vom Gipfel seiner Weisheit herab. »Heutzutage musst du ständig auf der Hut sein, ehe du dich’s versiehst, ist dir der Feind in den Rücken gefallen. Du darfst keine Sekunde zögern, musst stur deinen Weg gehen und darfst nicht zurückschauen. Deine Mutter und ich sind glücklich: Unser einziger Sohn hat es zum Buchhalter gebracht. Was wollen wir mehr?! Wir sind alt und wünschen uns nur, in Frieden und mit ruhigem Gewissen zu sterben …«

Mario setzte sich auf und sah seinem Vater demonstrativ forsch in die Augen, dabei kamen ihm vor Rührung fast die Tränen.

Giovanni warf ihm einen kurzen Blick zu und klopfte ihm halb lächelnd auf die Schulter.

Endlich biss einer an. Der rote Korkschwimmer verschwand unter der glatten Oberfläche des Weihers. In jäher Anspannung sprangen der alte Vater und der junge Sohn auf.

»Es ist so weit«, presste Giovanni mit mühsam unterdrückter Stimme hervor, um sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen.

Mario hingegen trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und ließ die Fingerknöchel knacken.

Es war eine Forelle, etwa eine Hand lang, mit einem kurzen, stumpfen Kopf und einem breiten Maul voller Zähne an Gaumen und Zunge.

Der Fisch schoss aus dem Wasser hoch hinauf, als wolle er in den Himmel fliegen; dann fiel er mit einem dumpfen Schlag in das glitschige Ufergras. Sofort waren vier entschlossene Hände über ihm und beförderten ihn hastig ein Stück vom Wasser weg. Giovanni bekam das wild zappelnde kleine Tier zu fassen und hielt es mit aller Kraft fest.

»Einen Stein«, rief er seinem Sohn zu. »Hol mir einen Stein.«

Mario packte einen Stein und brachte ihn dem Vater. Der legte den Fisch auf einen großen Kiesel und schlug hart auf den Kopf des zuckenden Tieres ein. Blut rann über den Boden, doch der Fisch schien sieben Leben zu haben: Als Giovanni schon nicht mehr damit rechnete, zuckte er noch einmal mit dem Schwanz … und schon fuhr der spitze Stein wieder und wieder auf ihn herab.

Endlich gab der Fisch für immer Ruhe.

»Ist er tot?«, fragte Mario.

»Er ist tot«, erwiderte Giovanni.

Der Angelhaken steckte tief im Magen der Forelle und ließ sich mit allem Ziehen und Zerren nicht befreien.

»Man merkt, dass du kein Profi bist«, sagte Mario und verzog den Mund zu einem Lächeln, seine Lippen waren seltsam bräunlich verfärbt, als bedeckte sie ein leichter Flaum.

»Das lerne ich noch!«, rief der alte Vater und riss mit einer energischen Handbewegung den Haken aus dem Fischleib. Doch zusammen mit dem Haken kamen auch der Magen und die verschlungenen Eingeweide des Tieres zum Vorschein.

»So! Und nun, wo wir ihm Kopf und Innereien entfernt haben, müssen wir ihn nur noch zubereiten«, schloss er mit übertriebener Strenge.

Der Fiat 850 hielt vor einer Holzbaracke in der Nähe des Weihers. Ringsumher erstreckte sich die fahle Landschaft, so weit das Auge reichte, bi