2 Zwei Erklärungsansätze für Krankheiten
Über die Ursachen einer Depression wird bereits seit langer Zeit diskutiert, um nicht zu sagen gestritten. Um diese Diskussion zu verstehen, ist es zunächst erforderlich, zwei grundsätzlich unterschiedliche Erklärungsmodelle für Krankheiten zu betrachten, nämlich das biologische bzw. biomedizinische Modell einerseits und das psychosoziale Modell andererseits.
Das biomedizinische Erklärungsmodell betrachtet eine Krankheit als eine Abweichung von einem vorherigen Normalzustand (idealerweise ist das der Zustand der Gesundheit). Die Abweichung wird durch einen schädlichen biologischen, chemischen oder physikalischen Einfluss ausgelöst. Dabei kann es sich um eine Verletzung, eine Infektion, eine Vergiftung, einen Gendefekt o. Ä. handeln. Das Ziel einer biomedizinischen Behandlung (z. B. Operation, Medikamente) ist daher immer klar, sowohl für die Behandelnden als auch für die Kranken: Der vorherige Zustand soll so weit wie möglich wiederhergestellt werden, indem die Ursachen der Krankheit behoben oder zumindest deren Folgen gemindert werden.
Das psychosoziale Erklärungsmodell betrachtet die Krankheit als Folge von belastenden innerpsychischen und/oder äußeren (sozialen) Lebensbedingungen, meistens ist es eine Kombination verschiedener innerer oder äußerer Bedingungen. Ziel der psychosozialen Behandlung (z. B. Psychotherapie) ist daher nicht, den Ausgangszustand wiederherzustellen – denn genau hier liegen ja die Ursachen der Erkrankung –, sondern die krank machenden Bedingungen so zu verändern, dass die Symptome verschwinden können. Bei einer Psychotherapie geht es also grundsätzlich um Veränderung. Herauszufinden, was die psychosozialen Ursachen einer Störung sind, ist bereits Teil der Behandlung. Es sind immer die Patientinnen und Patienten, die das Ziel festlegen, und sie wissen am Anfang der Behandlung oft selbst noch nicht, was das Ziel ist oder welche Änderungen notwendig sind, um es zu erreichen.
Biomedizinische Krankheitsmodelle sind nicht besser oder schlechter als psychosoziale Krankheitsmodelle. (Beide Modelle können auch kombiniert werden. So ein »biopsychosoziales Erklärungsmodell« passt z. B. für Magengeschwüre, bei denen Stress, Rauchen, genetische Veranlagung und eine Bakterieninfektion als Ursachen angenommen werden. An dieser Stelle ist das aber nicht von Belang.) Entscheidend ist, welches Modell bei welcher Krankheit angewendet wird. So ergibt es wenig Sinn, nach psychosozialen Ursachen für einen Knochenbruch zu suchen oder diesen mit Psychotherapie behandeln zu wollen.
Die Frage, um die es hier geht, lautet: Welches Erklärungsmodell passt für Depression? Ist die Depression als seelische oder als körperliche Erkrankung zu betrachten? Die Antwort der Psychiatrie hängt eng mit ihrer Geschichte zusammen. Daher müssen wir einen Blick auf die wissenschaftshistorische Entwicklung dieses Faches werfen.
Die biomedizinische Wende der Psychiatrie
Man kann sich das heute nur noch schwer vorstellen, aber bis in die 1950er-Jahre hinein war die Psychiatrie ein ausgesprochen psychotherapeutisch ausgerichtetes Fach, dabei war die Psychoanalyse dominierend. In der Psychoanalyse werden seelische Störungen psychologisch erklärt und z. B. als Folge von unbewussten Konflikten und Angstabwehr betrachtet. Solche Prozesse sind mit wissenschaftlichen Methoden kaum nachweisbar.
Ohnehin stand die Psychoanalyse der empirischen Forschung traditionell eher fern. Hierbei werden wissenschaftliche Erkenntnisse durch Formulierung und Prüfung von Hypothesen mittels systematischer Beobachtungen, Messungen oder Experimenten gewonnen. Zugleich zeigte sich, dass die Anwendung psychoanalytischer Konzepte bei der Behandlung psychischer Störungen oft wenig erfolgreich war.
Daher wuchs bei der nachrückenden Generation von Psychiaterinnen und Psychiatern die Unzufriedenheit mit der einseitig psychoanalytischen Ausrichtung, und es entwickelte sich eine starke Gegenbewegung. Dabei hatten die 1972 veröffentlichten sogenannten »Feighner-Kriterien«▶ [1] großen Einfluss, in denen unter anderem gefordert wurde, dass die Psychiatrie wieder zu einer im enger