: Meinrad Inglin
: Sämtliche Erzählungen
: Limmat Verlag
: 9783038552826
: 1
: CHF 31.30
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 920
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Dieser Band präsentiert sämtliche 57 Erzählungen von Meinrad Inglin. Erstmals aufgenommen sind die 11 frühen Erzählungen, die zwischen 1909 und 1926 in Zeitungen und Zeitschriften erschienen sind. Herausragend in Inglins Erzählungen ist die Natur, für die er einen ungewöhnlich reichen Wortschatz entfaltet. Aber Inglin ist nicht nur ein Meister der Naturbeschreibungen, eng verknüpft damit sind oft existenzielle Situationen von Menschen, die von Naturgewalten bedroht sind oder in Konfrontation mit der Natur ihren Weg suchen. Ein frühes Nature Writing, das bis heute durch seine Meisterschaft und erzählerische Kraft besticht. Mit Bonus: Zwei Erzählungen in kritischer Ausgabe

Meinrad Inglin (1893-1971) aus Schwyz zählt zu den bedeutendsten Schweizer Schriftstellern. Nach Abbruch einer Uhrmacher- und Kellnerausbildung sowie des Gymnasiums studiert er Literaturgeschichte und Psychologie in Genf und Neuenburg. Arbeit als Zeitungsredaktor und ab 1923 als freier Schriftsteller. Für sein Werk (vor allem Romane und Erzählungen, einzelne Aufsätze, Notizen und eine Komödie) wurde Inglin vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Grossen Schillerpreis und dem Gottfried-Keller-Preis.

DIE FURGGEL


Der Vater wanderte mit seinem zwölfjährigen Sohne im grauen Frühlicht eines Septembermorgens gegen Osten durch ein leicht ansteigendes Bergtal hinauf. Über dem Flüßchen, das hier zwischen Erlengebüschen und krautigen Wiesen noch breit und ruhig dahinzog, schwebte ein dünner Nebel, den die Wandernden als kühlen Hauch im Gesichte spürten, wenn der Weg sie in die Nähe des Wassers oder über eine Holzbrücke auf das andere Ufer führte. Die dunklen Waldhänge aber sah man auch durch den Nebel auf beiden Talseiten steil gegen den blaßblauen Morgenhimmel steigen.

Der Knabe durfte den Vater zum erstenmal in eine Gegend begleiten, die nächstens für die Gemsjagd freigegeben wurde, und wartete mit froher Spannung auf alles, was ihm dieser lang ersehnte Tag bescheren würde. Er konnte mit dem großen stattlichen Manne noch nicht Schritt halten, doch hätte er niemals zugegeben, daß man deshalb auch nur um Fingersbreite mäßiger ausgeschritten wäre. Mühelos und freudig aufgeregt blieb er neben ihm, schaute mit dem klugen Gesicht, in dem sich schon die kräftig bestimmten väterlichen Züge abzeichneten, neugierig nach allen Seiten, hörte mit wachen Ohren auf jedes Wort und folgte mit raschem Blick jedem Hinweis. Auf einer kurzen ebenen Strecke pfiff der Vater einen Marsch und ging nun doch etwas kürzer, weil der Junge, weit ausholend, durchaus im Takte bleiben wollte. Als der Marsch bei der nächsten Steigung zu Ende war und jeder wieder in sein eigenes Schrittmaß fiel, blickten sie einander lachend an; sie waren gute Kameraden.

Bald kamen sie an den Fuß eines bewaldeten Rückens, wo das Tal sich in zwei Täler gabelte, das Flüßchen in zwei Bäche, die Bergstraße in einen schmalen Fahrweg und einen Fußpfad. Während sie den Pfad einschlugen, der nach Südosten in das engere, steilere Tal hinaufführte, deutete der Vater in den Waldrand hinein auf einen mannshohen, von Efeu, Moos und Bärlapp überwachsenen Felsblock. «Von jener grünen Kanzel herab», sagte er, «hab’ ich den großen Fuchs geschossen, den jetzt die Mutter als Pelz trägt. Er wog achtzehn Pfund.»

«Das ist viel, nicht?»

«Ja, sehr viel. Gewöhnlich wiegen unsere Füchse hier etwa zwölf bis vierzehn Pfund, wenn sie ausgewachsen sind.»

«Aber gelt, es kommt mehr darauf an, ob ein Fuchs in den Haaren gut ist als wieviel er wiegt?»

«Richtig! Und dieser Bergfuchs war gut, er hatte schon das schöne lange Winterhaar, darum hat Mutter ihn auch bekommen. Am schönsten war er freilich, als er flüchtig aus dem dunklen Tannenwald herabkam, in raschem Trab, gespannt, lautlos, und dann da unten zwischen entlaubten Buchen in der Sonne auf einmal prächtig rotgelb aufleuchtete, oder als er überhaupt noch lebend in diesen Wäldern herumstrich.»

«Ja, das glaub’ ich … Aber ich hätte ihn auch geschossen.»

Der Vater lachte. «Da siehst du! Viele Menschen verstehen nicht, daß man an den wildlebenden Tieren die größte Freude haben und sie dennoch erlegen kann. Das sei ein Widerspruch. Kann sein, daß es einer ist, aber das Leben hat viele Widersprüche, man kann nicht alle lösen, und es ist trotzdem schön.»

Indessen stiegen sie rüstig den steilen Weg hinan, blieben auf einer schmalen Brücke im frischen Luftzug, der den stiebenden Bach begleitete, eine Weile stehen und schauten in die Tiefe des Haupttales hinaus, wo das Flüßchen unter den längst hinter ihnen zurückgebliebenen dünnen Nebelschwaden in vielen Windungen westwärts zog. Es war ihr letzter Blick ins Tal, der Weg führte sie gleich darauf schattenhalb einer Berglehne entlang, die wenig Aussicht mehr bot. Manchmal aber sahen sie zwischen Tannenwipfeln hindurch im Hintergrund einen langen, gegen Süden aufsteigenden Felsriegel, der Vater wies darauf hin und sagte: «Wenn wir dort oben sind, sehen wir die Alp und hinter ihr den Furggelgrat, wo wir hinauf wollen.»

«Warum heißt er so?»

«Wegen seiner Form. Furggel, oder auch Furkel, Furka, Forke, ist ein altes Wort für Gabel; in den Bergen bedeutet es einfach Gabelung …»

Er brach ab und blickte aufmerksam den Weg entlang. Sie hörten durch das Rauschen des Baches Hundegebell, Viehglocken und das «hoi, hoi» des Hirten, der eine Herde von der abgeweideten Alp zu Tale trieb. Ein junges Mädchen kam voraus, das ging scheu an ihnen vorbei, ihm folgten hintereinander etwa dreißig Rinder und Jährlinge, von denen manche mit einem neugierigen Blick auf die beiseite getretenen Wanderer stehenblieben.

Der Vater trat auf ein Rind zu, strich ihm mit den Fingern vom einen Horn über die krause Stirn hinweg zum andern und erklärte: «Das hier ist auch eine Furggel, das ist die Form.»

Das Rind wurde vom nächsten weitergedrängt; das übernächste wich mutwillig trabend aus der Reihe und begann dann Kräuter zu rupfen, als ob es allein wäre, aber schon rannte der schwarzweiße Treibhund von hinten her und hetzte es bellend auf den Weg zurück. Zuletzt kam der bärtige Hirt, eine Traggabel auf dem Rücken, eine silberbeschlagene Pfeife im Mundwinkel, von einem Älpler oder Holzer begleitet, der ein Gewehr umgehängt hatte.

«Der mit dem Gewehr ist der Wildhüter», erklärte der Vater dem Knaben noch rasch, dann begrüßte er die beiden, die ihn kannten und heiteren Angesichtes stehenblieben. Der Hirt wußte, warum dieser Mann da unterwegs war, und begann unaufgefordert von den Gemsen zu reden, die während des Sommers bald auf der Furggel, bald weiter hinten im Stotzigen Band oder auf der Karrenweid gewesen seien. Auf Fragen nach ihrer ungefähren Anzahl, ihren Böcken, ihrem Erscheinen bei einer gewissen Salzlecke und nach dem vermutlichen Stand und Wechsel eines anderen Rudels gab er Auskunft, soviel er eben wollte oder konnte. Der Vater fragte darauf den Wildhüter, der schweigend zugehört hatte, ob er ihm für die bevorstehende Jagd einen Träger wisse, und sagte dann, da der Mann nachdachte: «Vielleicht fällt Euch einer ein; ich komme nachmittags auf dem Rückweg deswegen bei Euch vorbei, es liegt mir ja am Weg. Zählt darauf!»

Der Hirt und der Wildhüter nahmen mit einem Händedruck Abschied und liefen eilig der Herde nach, der Vater stieg mit dem Sohne weiter bergauf und erreichte bald die Waldgrenze. Hier oben lief der Weg unter einem wolkenlosen blauen Himmel zwischen steinigen Höckern hin und bog dann in eine kurze felsige Enge, die sich unvermutet gegen Osten öffnete und den Blick auf die lichterfüllte, von höheren Bergen rings umgebene grüne Alp freigab. Vater und Sohn blieben schweigend stehen. Die Sonne blitzte ihnen entgegen. Es war ganz still.

Der Knabe blickte mit freudigem Staunen in diese mächtige, heitere Hochwelt hinein, er sah den Vater an, der ihm froh bewegt zunickte, er schaute von neuem und atmete tief und glücklich auf.

Nach einer Weile, als sie auf die ebene Alpweide hinausschritten, sagte der Vater: «Der Bergsattel dort hinten ist die Furggel, wo der Rinderhirt Gemsen gesehen hat.»

«Meinst du, werden wir sie auch sehen?»

«Möglich, wenn sie noch dort sind. Aber ein Hirt weiß nicht immer so genau Bescheid. Der Wildhüter hätte schon mehr erzählen können.»

«Warum hast du ihn nicht gefragt?»

Weil er der Wildhüter ist, der die Gemsen hier das ganze Jahr beobachtet und vor Frevlern bewacht, der sie kennt und gern hat; ich hätte ihn um Auskunft bitten können und wahrscheinlich manches erfahren, er ist ein aufrichtiger Mann, und wir kommen gut miteinander aus. Aber das will ich ihm ersparen, er soll mir seine Schützlinge nicht verraten müssen. In den Revieren ist es anders, dort wird der Wildhüter von den Jägern angestellt und sagt ihnen, was er weiß, aber hier haben wir noch die freie Jagd, hier muß der Jäger rechtzeitig die Augen und Ohren selber auftun, wenn er nachher ein Tier antreffen will.»

Sie durchwanderten die verlassene Alp und stiegen der östlichen Berglehne entlang gegen die Furggel hinauf. Manchmal blieben sie stehen, und der Vater suchte mit dem Fernglas Hänge und Felsbänder ab. Als sie die Furggel erreichten, einen breiten Gratsattel zwischen zwei Bergkuppen, krochen sie auf Händen und Füßen über das schieferige lose Gestein und die spärlichen Rasenplätze leise zum jenseitigen Grathang vor. Hier blieben sie spähend liegen, und die Augen des Knaben funkelten vor Spannung, doch sahen sie keine Gemsen.

Sie standen auf, und erst jetzt sah der Knabe erstaunt, daß hier gegen Osten schon wieder eine andere Bergwelt vor ihnen lag, von der sie auf dem ganzen Wege nichts bemerkt hatten. Der Vater erklärte, daß eben dies auch ein Merkmal der Furggeln sei....