: Monika Equit, Sarah K. Schäfer, Christian Günter Schanz
: Kein Stress ist nicht genug Eigene Bedürfnisse erkennen und das Wohlbefinden steigern
: Hogrefe Verlag GmbH& Co. KG
: 9783844432466
: 1
: CHF 14.90
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: Erkrankungen, Heilverfahren
: German
: 198
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Stress ist einer der größten Risikofaktoren für die Entstehung psychischer Erkrankungen. Stress zu reduzieren, kann uns helfen, uns besser zu fühlen. Echtes Wohlbefinden entsteht aber nur, wenn es uns gelingt, unsere psychischen Grundbedürfnisse (wie etwa das Bedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit oder nach Selbstverwirklichung) zu erkennen und zu erfüllen. Dabei kommt es jedoch auf die richtige Balance an, denn langfristige Bedürfnisbefriedigung geht immer auch mit Herausforderungen und Belastungen einher. Ziel des vorliegenden Ratgebers ist es, Leser*innen bei dem Spagat zwischen Bedürfnisbefriedigung und Stressbewältigung sowie dem Aufbau und Erhalt der psychischen Gesundheit zu unterstützen. Der Ratgeber nutzt dabei Erkenntnisse und Methoden der Resilienz- und Psychotherapieforschung und zeigt anhand alltagsnaher Beispiele, was wir selbst tun können, um unser psychisches Wohlbefinden zu fördern und unsere Widerstandskräfte zu stärken. Es geht also nicht nur darum, Stress zu reduzieren, sondern auch darum, bedürfnisbefriedigende (Lebens-)Ziele zu verfolgen, Emotionen besser zu regulieren, Resilienz aufzubauen und möglicherweise bereits bestehende psychische Erkrankungen richtig zu behandeln. Auch die Hintergründe der Entstehung von psychischer Gesundheit und Krankheit werden beleuchtet. Zahlreiche Materialien unterstützen den Transfer der Buchinhalte in den Alltag und können nach erfolgter Registrierung von der Hogrefe Website heruntergeladen werden.

|27|2  Wie man wurde, wer man ist


Um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu planen, hilft es manchmal, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Aus der Perspektive der Psychologie sind dabei vor allem die Erlebnisse der (frühen) Kindheit und Jugend relevant, da hier Erfahrungen gemacht werden, vor deren Hintergrund alle späteren Erlebnisse verarbeitet werden. Im Vergleich zu anderen Säugetieren haben Menschen die längste Kindheit und Jugend. Während das Erwachsenenalter beispielsweise bei Hunden zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr erreicht wird, ist dies beim Menschen erst am Ende des zweiten Lebensjahrzehnts der Fall. Diese lange Kindheit und Jugend ist keinesfalls ein Nachteil, ganz im Gegenteil: Ihr verdanken wir die Entwicklung unseres komplexen Sozialverhaltens, unserer kognitiven Fähigkeiten und unsere hohe Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Situationen. Außerdem entwickeln wir hier Strategien zur Bedürfnisbefriedigung, Ressourcen und Resilienzfaktoren – aber leider auch Vulnerabilitäten und manchmal sogar psychische Erkrankungen.

2.1  Die Grundausstattung


Kinder kommen nicht als unbeschriebenes Blatt zur Welt, sondern mit dem Erbgut ihrer Vorfahren. Viele Eigenschaften von der Körpergröße, über das Temperament bis hin zur Wahrscheinlichkeit, eine psychische Erkrankung zu entwickeln, sind genetisch mitbeeinflusst (Gatt, Burton, Williams& Schofield, 2015). Die genetische Ausstattung trägt einen relevanten Teil dazu bei, dass Kinder auch bei sehr ähnlichen Lebensbedingungen komplett unterschiedliche Persönlichkeiten, Grundannahmen und Regulationsstrategien entwickeln können. Lebensbedingungen sind in der Regel weder vollkommen gut, noch vollkommen schlecht; viel entscheidender ist meistens, wie sehr die Lebensbedingungen zu den individuellen Charakteristika des Kindes pas|28|sen (Wachs, 2005). Während ein Kind mit einem gehemmten Temperament möglicherweise von viel emotionaler Unterstützung und einer hohen elterlichen Fürsorge profitiert, kann ein Kind mit einem hohem Explorationsdrang und einer großen Offenheit für neue Erfahrungen das gleiche elterliche Verhalten als begrenzend und überprotektiv empfinden.

Beispiel

In Jannis Familie treten psychische Erkrankungen gehäuft auf. Sowohl seine Mutter als auch seine Großmutter väterlicherseits litten in der Vergangenheit unter Depressionen. Wie viele andere psychische Erkrankungen auch haben Depressionen eine genetische Komponente. Das heißt nicht, dass man zwangsläufig an Depressionen erkrankt, wenn Eltern oder Großeltern unter Depressionen litten, das individuelle Risiko ist jedoch im Vergleich zu Personen ohne eine solche genetische Veranlagung erhöht.

2.2  Die ersten Monate


In den ersten Lebensmonaten stehen die physiologischen Bedürfnisse von Kindern im Vordergrund (z. B. körperliche Nähe und Nahrungsaufnahme). Da Neugeborene sich nicht selbst versorgen können, müssen die Bezugspersonen die Nahrungsaufnahme, die Regulation der Körpertemperatur, der Umgebungslautstärke und viele andere Dinge angemessen gestalten (Trost, 2018). In Abhängigkeit der genetischen Ausstattung, des Temperaments und der Sensibilität brauchen Kinder in dieser Phase mehr oder weniger Stimulation. Obwohl Kinder in diesem Alter auf die Versorgung durch die Bezugspersonen angewiesen sind, sind sie keineswegs komplett passiv. Stattdessen drücken sie ihren Gemütszustand und ihr Bedürfnis nach Versorgung unter anderem durch Strampeln, Blickkontakt, Lächeln und Weinen aus. Die Auf|29|gabe der Bezugspersonen ist es, feinfühlig auf die Signale des Kindes zu reagieren, die Emotionen des Kindes zu spiegeln und ihr Fürsorgeverhalten den ausgedrückten Bedürfnissen anzupassen (Ainsworth, Bell& Stayton, 1974). Feinfühligkeit bezeichnet dabei eine gute Wahrnehmung und ein gutes Verständnis der kindlichen Bedürfnisse sowie die prompte und adäquate Beantwortung dieser Bedürfnisse. Im Verlauf der ersten Lebensmonate entwickeln Säuglinge erste selbstständig anwendbare Regulationsstrategien wie etwa das Lutschen am Daumen oder das Abwenden des Kopfes bei zu hoher Lautstärke. Dennoch werden Kinder noch viele Jahre auf den Schutz und die Co-Regulation durch ihre Bezugspersonen angewiesen sein. Ein wichtiger evolutionärer Faktor, der die Befriedigung kindlicher Bedürfnisse und die Co-Regulation ihrer Emotionen und ihrer Stressverarbeitung sichern soll, ist das Bindungssystem (Bowlby& World Health Organization, 1952).

2.3  Die Bindungsphase


Im Englischen kann Bindung sowohl mitbonding als auchattachment übersetzt werden (VandenBos, 2007).Bonding meint die Bindung, die von den Bezugspersonen ausgeht. Dieses Band entwickelt sich in der Regel innerhalb weniger Stunden oder Tage nach der Geburt.Attachment meint hingegen die Bindung des Kindes an die Bezugspersonen. Die Entwicklung dieses Bandes dauert länger und etwa ab der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres ist ein selektives Bindungsverhalten des Kindes beobachtbar (Ainsworth, Blehar, Waters& Wall, 1978). Während Kinder zuvor wenig differenziert auf bekannte oder fremde Personen reagiert haben, beginnen sie nun gegenüber unvertrauten Personen zu fremdeln. Zudem beginnen sie bei (subjektiver) Bedrohung oder in ungewohnten und neuen Situationen zunehmend die Nähe zu ihren primären Bezugspersonen zu suchen, in der Hoffnung, dort Schutz und Unterstützung zu finden. Wichtig ist, dass die Bezugspersonen die Suche nach Sicherheit zuverlässig und vorhersagbar beantworten, z. B. indem sie körperliche Nähe anbieten. Ist dies der Fall,|30|können Kinder im Verlauf der ersten Hälfte des zweiten Lebensjahres eine sichere Bindung entwickeln. Stehen Bezugspersonen zu wenig oder zu unzuverlässig als Sicherheitsobjekt zur Verfügung, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder eine unsicher-vermeidende oder unsicher-ambivalente Bindung entwickeln. Erleben Kinder Misshandlung oder (emotionale) Vernachlässigung, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer desorganisierten Bindung (Duschinsky, 2015).

  • Sichere Bindung (Ainsworth et al., 1978). Erleben sicher gebundene Kinder Stress, suchen sie Schutz bei ihren primären Bezugspersonen (z. B. Mütter oder Väter). Entfernt sich die Bezugsperson, zeigen sicher gebundene Kinder im Alter zwischen sechs Monaten und zwei Jahren in der Regel deutliche Stresszeichen (z. B. Weinen). Kehrt die Bezugsperson zurück, reagieren die Kinder in der Regel positiv und lassen sich trösten. Bei sicher gebundenen Kindern ist es wahrscheinlicher, dass sie auch als Erwachsene sichere Bindungen aufbauen können. Sicher gebundene Erwachsene können gut Beziehungen eingehen, kommen aber auch damit zurecht, (zeitweise) allein zu sein (Mikulincer& Shaver, 2007). Sie können Stress meistens gut regulieren und Emotionen flexibel und situationsangemessen ausdrücken.

Beispiel

Anna wuchs bei ihrer Mutter Heidi auf. Ihre Mutter nahm sich für sie Zeit und hatte ein gutes Gespür für ihre Bedürfnisse. Wenn sie Angst hatte, wurde sie getröstet. Wenn sie Nähe wollte, wurde sie auf den Arm genommen. Wenn sie lächelte, lächelte ihre Mutter zurück. Natürlich gab es auch mal Ärger. Klar, war Anna auch manchmal wütend auf ihre Mutter. Sicher war das alles nicht perfekt – aber es war gut genug. Ausgehend von dieser Beziehung traute sich Anna, ihre Umgebung zu erkunden, Dinge auszuprobieren und (im sicheren Radius ihrer Mutter), ihre Umwelt zu explorieren. Als Erwachsene führte Anna mehrere Jahre eine gute und enge Beziehung mit ihrem Freund Jens. Nach Ende des Studiums, durch die veränderten Lebensbedingungen, passte es dann irgendwann nicht mehr zwischen den beiden. Als sich das Paar trennte, trauerte Anna um die Beziehung. Sie erlebte einen großen Verlust, hielt ihn aus und konnte mit der Zeit wieder nach vorne schauen. Zwei Jahre später, nach einer Phase, in der es ihr mit dem neuen Single-Leben gut ging und sie ihr Bindungsbedürfnis in Freundschaften und durch ihre Familie...