Die »Bolschewikenzentrale«: Wien als Zentrum sowjetischer Spionage
Österreich gilt bis heute als Spielwiese internationaler Geheim- und Nachrichtendienste. Bereits in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg verzeichnete man eine intensive Tätigkeit verschiedener Agenten aus aller Herren Länder. Wien löste damals Paris als Hauptstadt der Spionage ab. Diese richtete sich wie auch in den darauffolgenden Jahrzehnten überwiegend nicht gegen Österreich. Interessant war das Land wegen seiner zentralen geografischen Lage als Drehkreuz und Knotenpunkt für Spione, die sich zwischen der Tschechoslowakei, Ungarn, Deutschland und der Sowjetunion hin- und herbewegten.41
Rein politisch und wirtschaftlich war das hohe Spionageaufkommen jedenfalls nicht zu erklären: Österreich, noch bis 1933 eine Demokratie, war weder militärisch noch wirtschaftlich von Belang. Aber es gab eine Reihe von Faktoren, die Spionage begünstigten: Einer war das liberale Niederlassungsrecht.42 Außerdem stellte Spionage in den 1920er- und 1930er-Jahren nur dann ein Vergehen dar, wenn es um Aktivitäten ging, die gegen Österreich gerichtet waren. In solchen Fällen wurde wegen »Geheimbündelei« Anklage erhoben. Im Falle eines Schuldspruchs drohten Inländern eine Haftstrafe von bis zu einem Jahr. Bei Ausländern bewegte sich der Strafrahmen zwischen einem Monat und bis zu einem halben Jahr.43
Überdies war die Spionageabwehr schwach ausgeprägt: Die seit 1920 bestehendeZentrale Evidenzstelle (ZEST) der Bundespolizeidirektion Wien war ein Informationszentrum und kein operatives Amt. Die Aufgabe derZEST lautete: »Sammlung aller politisch hervortretenden Personen und Bewegungen ohne Rücksicht auf ihre Wertung als staatsfeindlich oder staatsfreundlich.«44 Zentrale Bedeutung hatte dabei die Überwachung der heimischen kommunistischen Bewegung: Parteitage und öffentliche Kundgebungen wurden erfasst – ebenso wie die Tätigkeit österreichischer kommunistischer Funktionäre.45 DieZEST wurde aber dem Anspruch ihres Initiators – des Wiener Polizeipräsidenten Johannes Schober –, ein zentraler Nachrichtendienst zu werden, nicht gerecht. Dafür waren nie genug Finanzmittel vorhanden und andere Behörden widersetzten sich diesen Zentralisierungsbestrebungen. 1933 machte die Gründung eines staatspolizeilichen Evidenzbüros in der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit dieZEST praktisch obsolet.46
Im Österreich der Zwischenkriegszeit bestand auch kein ständiger militärischer Nachrichtendienst. Dieser war 1920 aufgelöst und 1924 sowie 1933 wieder ins Leben gerufen worden. Diese Struktur nahm aber keine Abwehrarbeit wahr, sondern beschränkte sich auf die Beobachtung der militärischen Lage im Grenzgebiet. Somit verfügten Kriminalbeamte des staatspolizeilichen Büros innerhalb der Wiener Polizeidirektion über die Oberhoheit im Hinblick auf die Spionageabwehr.47 Ab 1920 initiierte Schober einen Nachrichtenaustausch über kommunistische Aktivitäten mit mehreren Ländern. Diese »antikommunistische Interpol« hielt zahlreiche Konferenzen ab.48
Grundsätzlich aber waren die österreichischen Behörden laut dem Historiker Gerald Jagschitz bestrebt, »die internationale Agentenszene unbelästigt zu lassen und nur in jenen Fällen einzuschreiten, in welchen eine Verwicklung von österreichischen Staatsbürgern konstatiert wurde. So wurde etwa ein Österreicher verhaftet, der sich durch Bestechung von Beamten aus der Nachrichtengruppe des Landesbefehlshaberamtes (der späteren Heeresverwaltungsstelle Wien) streng vertrauliche militärische und politische Nachrichten beschaffte und sie sofort an die tschechoslowakische, polnische, englische, französische und rumänische Mission, zeitweise auch die ungarische Gesandtschaft weitergab. Diese Nachrichten betrafen nicht Österreich selbst, sondern jene Daten, die die Nachrichtenabteilung über fremde Staaten beschafft hatte.«49