Vorwort zur deutschen Ausgabe
Peter Vermeulen ist ein belgischer Pädagoge und Psychologe, der sich seit mehr als 30 Jahren mit Autismus befasst. Zum einen ist er in Gent (Belgien) als Lehrender, Trainer sowie Therapeut an einem von ihm mitgegründeten Autismus-Zentrum (Autisme Centraal) leitend tätig, an dem er bis heute wertvolle Erfahrungen in der Arbeit mit Menschen aus dem Autismus-Spektrum und Familien mit autistischen Kindern gewonnen hat. Zum anderen ist er ein vor allem im europäischen Raum bekannter und anerkannter Autismus-Experte und Autor zahlreicher Schriften, die sich insbesondere durch ein wissenschaftlich gestütztes, innovatives Nachdenken über die Sicht auf Autismus auszeichnen. Dazu zählt das viel beachtete Buch „Autismus als Kontextblindheit“ (2016). Wenngleich dieser Buchtitel zu einer einseitigen (negativen) und engen Sicht auf Autismus verleiten kann und daher kritisch gesehen werden sollte, werden wichtige Beobachtungen, Befunde und Erfahrungen zusammengetragen, die dazu sensibilisieren, Menschen aus dem Autismus-Spektrum angesichts ihrer Schwierigkeiten, Situationen oder Informationen kontextbezogen zu erfassen und zu nutzen, besser zu verstehen und ihnen mehr Lebensqualität durch geeignete Unterstützungsformen für ein inklusives ‚Leben mit Autismus‘ zu ermöglichen.
Ebenso innovativ und richtungsweisend kann die vorliegende Schrift betrachtet werden, die eine wichtige Ergänzung, ja Weiterentwicklung von „Autismus als Kontextblindheit“ darstellt.
Mit dem Begriff des „prädiktiven Gehirns“ wird eine bedeutsame Erkenntnis der kognitiven Neurowissenschaften aufgegriffen, die davon ausgeht, dass die Informationsverarbeitung des Gehirns nicht linear verläuft (z. B. nach dem Prinzip: Input – Verarbeitung – Output oder als Kette aus Stimuli und Reaktionen). Vielmehr trifft das Gehirn stets Vorhersagen darüber, was es in einer bestimmten Situation wahrnehmen und erwarten wird. Das bedeutet, dass es als eine vorausschauende Instanz operiert, indem es die Realität (z. B. tatsächliche Ereignisse oder Erlebnisse) mit seiner Vorhersage abgleicht und bei Abweichungen von Reizen (z. B. Überraschungen, unvorhergesehenen Situationen) eine Überarbeitung (Fehlerkorrektur durch Kontextsensitivität) seiner bisherigen Antizipation oder Erwartung vornimmt. Würde das Gehirn jedem Vorhersagefehler Aufmerksamkeit widmen, käme es „schnell zu einer mentalen Überbelastung“, weshalb es immer zwischen ‚relevanten‘ und ‚irrelevanten‘ Abweichungen (Stimuli) unterscheiden und entscheiden muss. Ein solcher vorausschauender Prozess (auch alspredictive coding bezeichnet) profitiert von individuellen Erfahrungen und vollzieht sich als ein extrem schnelles, sofortiges und unbewusstes Reagieren auf eine neue Situation oder Information, einen neuen Stimulus oder Gedanken. Manche sprechen in dem Zusammenhang von einer Überlebensstrategie. Demgegenüber gibt es freilich auch Situationen, in denen keine rasche Reaktion oder Antwort notwendig ist, was dann zu bewussten (überlegten) Entscheidungen führt, bei denen gleichfalls ein im Gedächtnis gespeichertes Erfahrungswissen eine wichtige Rolle spielt, das wie die Entscheidungen nicht von unbewussten (emotionalen) Einflüssen losgelöst betrachtet werden darf.
Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse führ