Die Praktische Theologie ist die jüngste der klassischen theologischen Disziplinen. Sie ist Theorie der christlichen Religionspraxis. Weil diese Praxis sich mit dem Wandel der jeweiligen Zeitumstände verändert, hat die Praktische Theologie ihren Gegenstand, ihre Zugangsweise und ihre Aufgabenstellung je neu zu reflektieren und zu bestimmen.
1 Wandel des theologischen Selbstverständnisses zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Die Frage nach dem Verständnis der christlichen Religionspraxis und ihrer Gestaltung gewann in den Jahrzehnten des Übergangs vom 18. zum 19. Jahrhundert, der sogenanntenSattelzeit der Transformationen zwischen früher Neuzeit und beginnender Moderne, eine neue Komplexität. Diese Entwicklungen haben bis heute grundlegende Auswirkungen auf das wissenschaftliche Selbstverständnis der Theologie insgesamt und der Praktischen Theologie im Besonderen.1
• Im Zusammenhang der gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozesse haben Kirche und Christentum ihre vormals zentrale Stellung in der Gesellschaft verloren.Unterschiedliche religiöse und religionskritische Sichtweisen auf die Wirklichkeit konkurrieren miteinander. Neben das kirchliche Verständnis des Christentums und die institutionelle Religionspraxis treten zunehmendprivate Formen christlichen Lebens.
• Die religiöse Praxis, so zeigt sich immer deutlicher, ist nicht identisch mit der kirchlichen und dogmatischen Lehrbildung. Im Gefolge Johann Salomo Semlers (1725–1791) wird dieser Tatsache Rechnung getragen, indemTheologie und Religionunterschieden werden. Im Bewusstsein dieser Differenz bildet sich das Selbstverständnis der Theologie um. Sie bezieht sich nun nicht mehr allein auf die kirchliche Praxis im Sinne einer Handlungsanweisung, sondern weitet sich zu einer Theorie der religiösen Praxis.
• Dashistorische Bewusstsein, das sich in der Aufklärung ausbildet, relativiert den autoritativen Bezug auf die christliche Tradition. Seither bewegt sich die Theologie im Spannungsfeld des Wissens um die historische Veränderbarkeit ihrer Grundlagen auf der einen und der Behauptung ihrer Geltung für die Gegenwart auf der anderen Seite.
Die Veränderungen, die aus diesem Wandel resultieren, bilden sich auch in den einzelnen Kapiteln dieses Buches ab; denn das beginnende 19. Jahrhundert bedeutet in vielen Einzelfragen der Praktischen Theologie und der Orientierung religiöser Praxis einen markanten Einschnitt.
Zugleich stellt sich die Frage, inwieweit diegegenwärtigenTransformationen (stark abnehmende Kirchlichkeit, Mediatisierung, religiöse Pluralisierung bzw. Zunahme von Konfessionslosigkeit) einen ähnlich fundamentalen Einschnitt darstellen wie die Entwicklungen der Sattelzeit. Jedenfalls ist die Praktische Theologie in ihrem theoretischen Selbstverständnis vorneue Herausforderungen gestellt, die eine Anknüpfung an die Religionstheorie des frühen 19. Jahrhunderts, die die letzten Jahrzehnte bestimmt hat, weniger selbstverständlich machen und neue Antworten erfordern. Diese Problematik ist als Hintergrund der folgenden Überlegungen mitzulesen. Auch heute gehen Menschen und Gesellschaft mit existenziellen Fragen und Situationen um und zeigen darin nicht selten eine Offenheit für Transzendenz. Dies aber steht nicht notwendigerweise im Zusammenhang eines christlich-religiösen Wirklichkeitsverständnisses, schon gar nicht werden die Kirchen als selbstverständlich zuständig angesehen. Die christliche Religionspraxis ist i