1. KAPITEL
„Ich nehme jede Stelle an, die Sie haben.“ Maura Harding saß kerzengerade da und hatte die behandschuhten Hände sittsam im Schoß gefaltet. Sie wollte freundlich und nicht verzweifelt klingen. Sie war nicht verzweifelt. Maura zwang sich zumindest, das zu glauben. Wenn sie es nicht glaubte, würde es auch kein anderer tun. Verzweiflung würde sie zu einer leichten Beute machen. Die Leute spürten Verzweiflung, wie Hunde Angst rochen.
Es war halb elf am Morgen. Sie war ohne Umwege von der Postkutschenstation zu Mrs. Pendergasts „Vermittlungsagentur für junge Damen aus gutem Hause“ gegangen, und sie brauchte bis zum Anbruch der Nacht eine Anstellung. Bis hierhin war alles nach Plan verlaufen, doch jetzt beäugte Mrs. Pendergast sie skeptisch über die Ränder ihres Lorgnons und zögerte.
„Sie haben keinerlei Referenzen.“ Mrs. Pendergasts eindrucksvoller Busen hob sich missbilligend.
Maura holte tief Luft und wiederholte stumm und gebetsmühlenartig das Mantra, das ihr auf der langen Reise aus Exeter Kraft verliehen hatte:In London wird es Rettung geben. Sie würde nicht einfach aufgeben, weil sie keine Empfehlungsschreiben vorzuweisen hatte. Schließlich hatte sie gewusst, dass dies ein naheliegendes Hindernis war. „Es ist das erste Mal, dass ich nach einer Anstellung suche, Madam.“Das erste Mal, dass ich einen falschen Namen annehme, das erste Mal, dass ich Devonshire verlassen habe, das erste Mal, dass ich auf mich allein gestellt bin … eine ganze Menge erste Male, Mrs. Pendergast, wenn Sie das nur wüssten.
Mrs. Pendergast hob zweifelnd die Brauen und verzog das Gesicht. Sie legte den von Maura mit größter Sorgfalt geschriebenen Lebenslauf auf dem Tisch ab und starrte Maura frostig an. „Ich habe keine Zeit für Spielchen, Miss Caulfield.“
Nun, der falsche Name hörte sich für Maura falsch an, die ihr ganzes Leben lang Miss Harding gewesen war. Ahnte Mrs. Pendergast das? Klang der Name auch in ihren Ohren falsch? Hegte sie einen Verdacht?
Mrs. Pendergast erhob sich, um zu signalisieren, dass die Unterredung beendet war. „Ich bin sehr beschäftigt. Gewiss ist Ihnen nicht entgangen, dass mein Wartezimmer mit jungen Damen überfüllt ist, die Referenzen haben und darauf erpicht sind, von mir an einen Haushalt vermittelt zu werden. Ich schlage vor, dass Sie Ihr Glück woanders versuchen.“
Das war eine Katastrophe. Sie konnte nicht von hier fort, ohne eine Anstellung zu haben. Wohin sollte sie sonst gehen? Sie kannte keine anderen Agenturen, die Hausangestellte vermittelten. Von Mrs. Pendergasts Agentur wusste sie nur, weil ihre eigene Gouvernante sie einmal erwähnt hatte. Maura ließ sich blitzschnell eine Entgegnung einfallen. „Ich verfüge über Besseres als Referenzen, Madam. Ich besitze Fähigkeiten.“ Sie wies auf das abgelegte Papier. „Ich bin sehr gut in feinen Näh- und Stickarbeiten, ich kann singen und tanzen und spreche fließend Französisch. Selbst mit den Techniken der Aquarellmalerei kenne ich mich hervorragend aus.“ Maura hielt inne. Ihre Fertigkeiten schienen Mrs. Pendergast nicht zu beeindrucken.
Wenn die Argumente scheiterten, konnte man immer noch betteln. „Bitte, Madam, ich weiß sonst nicht, wo ich hingehen soll. Haben Sie denn nicht irgendetwas für mich? Ich könnte einer betagten Lady als Gesellschafterin dienen, ein junges Mädchen als Gouvernante betreuen. Ich würde jede Aufgabe bewältigen. Es gibt doch gewiss irgendeine Familie in London, die mich brauchen kann.“
Eigentlich hatte sie es sich nicht so schwer vorgestellt. London war eine große Stadt, in der es ganz andere Möglichkeiten gab als im ländlichen Devonshire, wo jeder jeden kannte. Genau diesem Umfeld hatte Maura unbedingt entfliehen wollen. Sie wollte nicht, dass man sie kannte, obgleich sie rasch einsehen musste, dass diese Entscheidung Konsequenzen hatte. Sie war nun eine Fremde an einem fremden Ort, und ihr sorgfältig ausgearbeiteter Plan war in Gefahr.
Mauras flehentliche Bitte zeigte Wirkung. Mrs. Pendergast setzte sich wieder hin und öffnete e